Magazin #06

Abgesang auf eine große Liebe

Die »Visuelle Zeitenwende« und ihre Folgen

Text – Heiko Haupt

Sie ist tot, sagen sie. Wurde nicht mehr gebraucht, in die Verbannung geschickt und das war’s dann. Die Reportage ist nicht mehr – jedenfalls nicht in den Köpfen der Blattmacher der 90er-Jahre. Doch auch wenn sie aus den Blättern, die die Kioske beherrschen, so gut wie verschwunden ist, wurde an diesem bestimmten Abend in Berlin noch etwas anderes klar: Die Reportage ist und bleibt für das Gros der Fotografen und Texter der Mittelpunkt ihrer Arbeit. Sie ist der große Traum, der für den nicht minder großen Frust sorgt, wenn er nicht in Erfüllung geht.

Daß es zu diesem vermeintlichen Abgesang kam, war weder geplant noch gewollt, als sich im Rahmen des FreeLens Jahrestreffens Fotografen, Bildredakteure und Experten zur Diskussionsrunde »Visuelle Zeitenwende« zusammensetzten. Es sollte allgemein um die Zukunft gehen, darum, was sich verändert hat und noch verändern wird, wie beide Seiten womöglich auf einen Nenner zu bringen sind. Die »andere« Seite, das waren an diesem Abend auf dem Podium Rüdiger Schrader von Focus, Annette Autzen von Fit for Fun, SPIEGEL-Mann Joseph Csallos, Kai Uwe Heinrich, Bildredakteur des Tagesspiegel in Berlin und der Medienkritiker Ulf Erdmann Ziegler.

Man sprach lange, und man sprach offen. Über Arbeitsbedingungen und Probleme, über Layouts und auch übers liebe Geld. Und im Endeffekt stellte sich immer wieder heraus, daß das alles ein großer Kreislauf ist, hinter dem nichts anderes als ein paar ganz einfache aber wichtige Wünsche stecken. Die Wünsche der Fotografen: Eine interessante Geschichte mit guten Bildern abliefern, sie angemessen im Blatt wiederfinden und dafür angemessen entlohnt zu werden. Die Wünsche der anderen Seiten: Von den Fotografen eine interessante Geschichte gut bebildert zu bekommen, sie angemessen ins Blatt zu heben und damit ein gutes Heft zu machen.

Im Grunde also recht ähnliche Wünsche. Wobei sich die Probleme, die sich hinter diesen einfachen Aussagen verbergen, zwar ständig verändern, im Grunde aber auf ein und derselben Basis bleiben. Beide wollen das gleiche nur mit anderen Mitteln. Der Fotograf möchte bekanntlich seine eigene Bildsprache abliefern können, möchte Zeit für gute Fotos haben. Die Blattmacher wollen ihrem Blatt ebenfalls ein ganz eigenes Erscheinungsbild geben, wollen die Produktion im von ihnen gesteckten Zeitrahmen abgeliefert sehen.

Wieder sieht alles ganz einfach aus und ist es doch nicht. Denn, auch das wurde an diesem Abend noch einmal deutlich, die Zeiten, als eine Zeitschrift oder Zeitung aus dem Bauch heraus gemacht wurde, die sind nunmal vorbei. Kein Platz für Extravaganzen oder Experimente. Die Blätter sind heute Produkte, mit ausgeklügelter Optik – der sich die Optiklieferanten anzupassen haben. Und auch wenn bei den fest angestellten Blattmachern ein gewisses Verständnis für die Situation der Freien zu erkennen war, so müssen und wollen sie doch gewissen Richtlinien folgen. Richtlinien, die auf dem höchstmöglichen Profit beruhen und daruf, was man glaubt, daß der Leser will. Und deswegen eben, meinten die Verantwortlichen, sei für die große Reportage, die einfühlsam gestaltete große Bildstrecke kein Platz mehr.

Allerdings tat jeder der Verantwortlichen sein Möglichstes um zu beweisen, daß er sie doch retten wollte – wenn auch in etwas anderer Form als gewohnt und auf seine ganz persönliche Weise. Selbst der Hauptverdächtige Rüdiger Schrader von Focus gab allen Anfeindungen zum Trotz nicht nach. Natürlich habe man bei dem Münchener Magazin viele kleine Fotos, der Leser will das ja so. Auf der anderen Seite gebe es doch aber immer noch doppelseitige Bilder, größere Bildstrecken. Und bei Fit for Fun gebe es doch auch diese Strecken, die Mode-, Reise- und Sonstwas-Strecken. Der SPIEGEL? Der will sowas je nach Thema und Struktur des Blattes entscheiden. Klar.

Doch die anwesenden FreeLenser gaben sich mit den Bekenntnissen nicht zufrieden. Die Aneinanderreihung von Bildern, in welchem Format auch immer, ist noch lange keine Reportage, meinten sie. Bestenfalls ein Placebo, eine Art Potemkinsches Bilderdorf, das einer Reportage ähnlich sieht. Denn noch eines wurde an diesem Abend deutlich: Die Arbeitsbedingungen von heute sind allein schon tödlich für das, was mal Reportage hieß.

Der Fotograf als »Geschichtenspringer«, so nannte es einer. Statt sich tatsächlich in eine Geschichte einleben zu können, wird immer schneller gearbeitet. Und statt eine eigene Bildsprache zu entwickeln, der Geschichte tatsächlich gerecht zu werden, werden heute Klischees verlangt, werden vorab in der Redaktion detailliert ausgetüftelte Motive gefordert, so die einhellige Meinung der Fotografen. Und was nicht ins Bild paßt, wird so verändert – mancher nennt es manipuliert – daß es dann doch noch paßt.

Was natürlich die andere Seite nicht so sah. Um es kurz zu machen: Natürlich vetraten beide Seiten ihre Interessen und Standpunkte in Sachen »Visuelle Zeitenwende«. Natürlich haben beide Seiten starke und einleuchtende Argumente für ihr Tun und ihre Wünsche. Nur ändert dies nichts an der Sache: Was man denn auch an diesem Abend erkannt hat. Abgesehen von Namen wie Stern oder GEO gibt es nichts, das die Reportage hochhält (allerdings bekanntlich auch nicht mehr so hoch wie einst). Und daß das nicht zum (über)leben reicht, ist klar.

Eine Frage konnte nicht geklärt werden – und zwar eine der wichtigsten. Ist nämlich das Todesurteil für die Reportage überhaupt rechtmäßig? Wurden sozusagen die vermeintlichen Zeugen der Anklage überhaupt gehört? Schließlich wird immer wieder der berühmt-berüchtigte Leser vorgeschoben. Der habe sie schon immer gehaßt, sagen sie. Der ist froh, wenn er den ganzen Kram nicht mehr sehen muß. Der will Kleinkram, Kleinkram, Kleinkram, will sich zack-zack informieren, will Nutzwert. Und darum, meinen sie, greift er heute zu Focus, ist froh, daß im SPIEGEL nun auch viele bunte kleine Bildchen drin sind und freut sich, daß ihm Fit for Fun erklärt, daß er sozusagen den großen Zeh in Erdbeer-Joghurt tauchen muß um stark und schön zu werden.

Aber will er das wirklich, der Leser? Kauft er all diese Blätter, weil es keine großen und guten Geschichten mehr gibt – oder kauft er sie trotzdem? Weil er eben gehört hat, daß sie mittlerweile unauffindbar ist, die große Liebe der Fotografen, Schreiber und Leser.