Magazin #28

Das Sandwich-Prinzip

»Sandwich Generation« heißt eines der bekanntesten Medienprojekte von Ed Kashi und Julie Winokur. Und ihre Arbeit ist ähnlich vielschichtig. Sie mischen eindrucksvolle Einzelfotos mit Film­sequenzen zu einer eigenständigen, intensiven Erzählform

Text & Fotos – Uwe H. Martin

Der feste Händedruck berührt mehr als nur meine Hand, heißt mich im Leben von Ed Kashi willkommen. Er gibt mir das Gefühl ganz selbstverständlich zum Kühlschrank gehen zu können, um mich zu bedienen. Eine freundliche Aufnahme in die Familie, die ich schon aus dem Foto-Film-Projekt »Sandwich Generation« zu kennen glaube. So wie der ehemalige Assistent aus der Türkei, der vom Flughafen in New York anrief und für drei Monate blieb, bis es selbst Julie zu viel wurde. Es sind menschliche Geschichten, die die Arbeit des Fotografen-Filmer Paares Ed Kashi und Julie Winokur prägen. Geschichten, die vom Altern in der eigenen Gesellschaft erzählen, von den Gestrandeten eines privatisierten Gesundheitssystems und von der eigenen Familie.

Von ihrer Rolle zwischen den Generationen der pflegebedürftigen Eltern und den eigenen Kindern erzählt ihr Multimediaprojekt »Sandwich Generation«. Die Fortsetzung »Living with Herbie« berichtet von dem Rückzug des eigenen Vaters in das Kindliche und dem unaufhaltsamen Verfall am Ende des Lebens. Wir nähern uns der Familie, die von Kalifornien nach New Jersey zieht, um Julies kranken Vater zu betreuen. Wir erleben wie Isabel, ihre Tochter, fachmännisch über die Demenz ihres Opas spricht. Auf die Frage was Demenz bedeutet, antwortet sie mit einem Schulterzucken: »Er ist verrückt!« Es trifft uns, wenn wir Zeuge werden, wie den Eltern die Zeit für die eigenen Kinder schwindet, die ganze Familie die Geduld verliert und auseinander zu brechen droht. Bis Julie schließlich realisiert, dass der alte Mann, der in ihrem Haus lebt, nicht mehr ihr Vater ist.

»Das Schwierigste bei dem Projekt war, die Kamera auf uns selbst zu richten. Wir Journalisten springen in das Leben von anderen Menschen, bitten sie oft, sich in den schwierigsten Momenten zu öffnen.« Gerade der Editing Prozess stellte Julie vor die Herausforderung, objektiv mit ihrem Leben umzugehen, ohne zu zensieren: »Es war die Möglichkeit sein eigenes Leben mit Interesse von außen zu betrachten und eine spannende Geschichte zu entwickeln.« Nach einem Moment der Besinnung fährt sie mit einem unsicheren Lächeln fort: »Das ist besser als Psychotherapie!«

Die Seiten von Eds Kalender sind fast schwarz. Ohne erkennbare Ordnung, kreuz und quer über das Blatt verteilt, sind die unzähligen Aufgaben aufgelistet, die heute zu erledigen sind, Das weitläufige Loft pulsiert in geschäftiger Betriebsamkeit. Julies Assistentin Elissa transkribiert das Filmmaterial des letzten Drehs, die Multimediaproduzentin Carol bespricht mit Julie neue Strategien zur Projektfinanzierung. Stella schneidet eine neue Sequenz. Sie hat den Film »Supersize Me« editiert und ist für das aktuelle Projekt als freie Redakteurin zu Julies Firma Talking Eyes Media gestoßen. Ed organisiert einen Vortrag für die Schule seines Sohnes, bespricht mit Studiomanagerin Kristin das Layout des neuen Buches und den Onlineshop, der die lukrativen Printverkäufe ankurbeln soll und signiert nebenbei einen Abzug aus dem Niger Delta Projekt, den ihm sein Bildbearbeiter Michael hinhält.

Wie in den meisten seiner aktuellen Projekte sieht Ed Kashi sich nicht mehr als neutralen Beobachter. Mit seiner Arbeit über das Öl, das der nigerianischen Elite Milliarden und der Bevölkerung Elend und Umweltzerstörung brachte, klagt er Missstände offen an. Für Oxfam kuratiert Ed eine Wanderausstellung zum Thema, hält Vorträge an Universitäten und Schulen. Die Universität von Michigan hat sein Buch »Curse of Black Gold« als Pflichtlektüre für Afrikanische Studien bestimmt.

»So sehr wir als Fotografen unsere Bilder in Magazinen wie National Geographic, Geo und Stern sehen wollen, so spannend ist es, dass unsere Arbeit von Menschen außerhalb der Medien genutzt wird, die auf Graswurzelebene für einen Wandel kämpfen.«

Im Zentrum dieser Arbeit stehen großangelegte Multimediaprojekte, die Ed Kashi Photography und die Non-Profit Multimediaproduktionsfirma Talking Eyes Media (TEM) seiner Frau Julie Winokur gemeinsam produzieren.

Als Ed Kashi das Büro verlässt, wird es für einen Moment ruhig. Alle schauen auf die Uhr, jemand fängt an zu zählen. Eine Minute, zwei Minuten, nach spätestens drei Minuten klingelt das Telefon, und das ganze Team bricht in Gelächter aus. Ed hat wieder eine Idee, die er sofort mitteilen muss. Das ist immer so, wenn er zur Ruhe kommt, im Auto sitzt oder irgendwohin unterwegs ist. Dann sprudeln die Ideen aus ihm heraus, die sofort mitgeteilt und in die Tat umgesetzt werden wollen. »Ed ist der effizienteste Mensch, den ich kenne«, sagt Kristin, die zuvor für Elliott Erwitt arbeitete. Eine Effizienz, die am Anfang der Zusammenarbeit der beiden zu Problemen führte, da sie erfordert, sich völlig auf Eds Organisationssystem einzustellen. Und das verlangt, alles sofort zu erledigen. Die »Mutter des Studios« kanalisiert die Ideen, organisiert das Geschäft und hält Ed den Rücken frei. So kann er sich um seine Projekte und die Fotografie kümmern, die das Geld für das große Team erwirtschaftet. Das Archiv spielt dabei die entscheidende Rolle und die Archivverkäufe tragen die Kosten für Kristin und einen Bildbearbeiter sowie ein »Mädchen für alles«, das sich halbtags um die Verschlagwortung der Bilder kümmert.

Schon als Teenager wollte Ed Kashi Geschichten erzählen. Während seines Journalismusstudiums entdeckte er die Fotografie, die ihn zwang seine Schüchternheit zu überwinden und auf Menschen zu zugehen. »Die ersten Jahre war ich kein Storyteller, nur Magazinfotograf. Das bedeutete damals, viele Porträts zu fotografieren, einen Tag, maximal eine Woche für einen Job Zeit zu haben. Nach acht Jahren realisierte ich, dass das nicht der Grund war, warum ich Fotograf geworden war, obwohl meine Bilder oft veröffentlicht wurden, ich viel Geld verdiente und die ganze Welt sah.«

Ein eigenes, dreijähriges Projekt in Nordirland brachte die Wende. Ed interessierte sich für die feinen Nuancen im Leben der Menschen in Konfliktregionen. Er fotografierte Protestanten, deren Geschichte in den Medien unterrepräsentiert waren, weil sie das mediale Schwarz-Weiß-Muster nicht erfüllten. Das erste Mal machte Ed Kashi Bilder, auf die andere Menschen reagierten, und auf die er stolz war.

Es folgten zahlreiche Geschichten für National Geographic, die meistens auf Eds Vorschlag hin produziert wurden. »Ich sehe die Arbeiten für National Geographic wie ein großes Stipendium, das es mir ermöglicht, meine eigenen Projekte für ein tolles Magazin zu realisieren.« 1993 fotografierte er den ersten Schultag in der Ukraine, löcherte seine Übersetzerin, ihm zu erklären, was vor seiner Linse passierte, versuchte zu verstehen und scheiterte doch an den subtilen Zwischentönen der fremden Kultur. Es war Zeit die Kamera auf die eigene Gesellschaft zu richten.

Zwei Jahre später begannen Ed und Julie Winokur das »Aging in Amerika« Projekt. Das Altern der amerikanischen Gesellschaft identifizierten sie als das wichtigste Thema ihrer Generation und reihten sich damit bewusst in die Tradition großer Dokumentarfotografieprojekte ein. Wie die Fotografen der Farm Security Administration, Charles Moore’s Dokumentation der Civil Right Bewegung und Donna Ferrato’s Reportage über häusliche Gewalt, wollten sie ein Dokument ihrer Zeit schaffen, das auch nach Jahrzehnten noch Bestand hat.

Während des siebenjährigen Projekts besuchte Ed einen Platypusworkshop bei Dirk Halstead, lernte mit Video und Final Cut zu arbeiten, schnitt einen kleinen Film. Völlig begeistert überzeugte er Julie, zuerst gegen ihren Widerstand, in Video zu investieren. Als Journalistin hatte Julie bis dahin Toninterviews nur als Erinnerungsstütze aufgenommen. Brian Storm stellte aus ihren Interviews und Ed’s Fotos eine Audioslideshow für MSNBC.com zusammen. Die erzählerische Kraft überzeugte Julie so sehr, dass sie begann ihre Interviews zu filmen. Zwischendurch ließ sie die Kamera laufen, richtete sie auf Details aus dem Leben ihrer Protagonisten. An beiläufigen Momenten, die sich vor ihrer Kamera entwickelten, hatte sie schnell hundert Stunden Filmmaterial zusammen – Szenen, die eine zusätzliche Zeit-Dimension in ihre Reportage bringen.

Acht Monate lang arbeitete sie an der Kombination aus Videos, Toninterviews und Fotos. »Diese Form erlaubt uns die Geschichten, die wir immer erzählen wollten, viel komplexer und vollständiger zu erzählen als das im Print möglich ist. Wir erreichen viel mehr Menschen und können den Menschen selbst eine Stimme geben.«

Allerdings macht sich Ed Kashi Sorgen, dass die Fotografie im Editorialprozess nach und nach ihre Bedeutung verliert. Die Medien bewegen sich vom Print weg in Richtung Internet, und dort geht der Trend zu Video. »Wir bewegen uns jetzt häufig im Bereich Dokumentarfilm. Dort hören wir immer: ›Hey, Ihr habt es versaut. Es fehlt Filmmaterial vom Umfeld.‹ Und wir sagen dann, ›Nein, nein, unser Hintergrundmaterial sind die Fotos.‹«

Ed Kashi und Julie Winokur besetzen einen bisher nicht definierten Zwischenraum und versuchen die Stärke des Fotos online zu bringen: Die Magie des stillen Bildes, die den Betrachter zwingt innezuhalten, nachzudenken und zu analysieren.

Auch dieses stille Bild hat sich für Ed Kashi durch Mutimedia verändert. Er fotografiert heute viel flüssiger, denkt viel in Sequenzen und lässt sich mehr treiben. Die Arbeit mit Ton verändert seine Rolle als Journalist. Früher saß er oft bei Interviews, die ein Schreiber führte, passiv dabei, oder fotografierte draußen, um das gute Licht zu nutzen. Heute integriert er Interviews in die Arbeit, lernt so mehr über die Geschichte und erhält zusätzliche Ideen für Bilder.

Trotz der immer einfacher zu bedienenden Technik glaubt Ed nicht an Einzelkämpfertum, das oft als Modell des Multimedia-Journalisten propagiert wird. Dabei würde die eigene Arbeit verwässert, weil die Entscheidung zu treffen ist, ob das jetzt ein Moment für Foto-, Video- oder Audio ist. »Dabei explodiert einem der Kopf. Und während man noch darüber nachdenkt, entwickelt sich die Situation weiter und man verpasst sie. Man ist nicht mehr im Jetzt. Bei dieser Arbeit ist es entscheidend, für den Moment sensibilisiert zu sein.«

Am Beginn einer neuen Geschichte fährt Julie für einige Tage zu den Protagonisten, baut die Beziehung auf und fängt an zu filmen. Nach einigen Tagen kommt Ed dazu und sie arbeiten parallel, bevor Ed allein weiter macht. Er kann sich so ganz der Fotografie widmen und muss nicht erst das Eis brechen. Auch ergibt die gemeinsame Zeit vor Ort meist schon ein Grundgerüst für die Geschichte, die sie vom Text her entwickeln. Die wichtigsten Aussagen bilden die Grundlage. Erst dann sichten Ed und Julie erneut alle Fotos und stellen eine Bildauswahl für die Multimediapräsentation zusammen. »Ich glaube, dass meine Arbeit heute besser ist als je zuvor. Meine größte Sorge ist, ob ich sie fortsetzten kann, während sich die Medienrealität verändert und die Magazine schrumpfen. Es ist wichtig, neue Wege für die Projektfinanzierung zu finden und die Informationen unter die Leute zu bringen.«

Dafür ist es entscheidend, immer präsent zu sein. Neben Wettbewerben, in die jedes Jahr einige tausend Dollar investiert werden, kümmert sich Kristin um eine Webpräsenz mit eigenen Projektseiten und hält Interessenten mit einem monatlichen Newsletter auf dem Laufenden. Mittlerweile läuft auch der Direktverkauf von DVDs an Schulen und Organisationen ganz gut. Dazu kauft TEM Adressen ein, und versendet Broschüren an potenzielle Kunden.

Zwar finanziert der Verkauf von etwa 100 DVDs pro Jahr fast das Honorar für einen Mitarbeiter, doch noch immer müssen Ed Kashi Photography und TEM jedes Jahr einige tausend Dollar zuschießen. Eine gute Multimediaproduktion ist wesentlich aufwendiger und teurer als Fotografie. Bisher gibt es für Multimedia noch kein festes Geschäftsmodell. Durch die derzeitige Rezession wird der wirtschaftliche Druck auf Ed Kashi und Julie Winokur größer, sodass sie befürchten, ihr Geschäftsmodell in einigen Jahren möglicherweise überdenken zu müssen.

»Während meiner ganzen Karriere habe ich immer in meine eigene Arbeit investiert, und es gibt keinen Grund, jetzt damit aufzuhören«, sagt Ed Kashi, nachdem er eine Mitarbeiterin mit der Recherche für drei Themen beauftragt hat, die er National Geographic vorschlagen will. »Wir erleben eine Zeit wundervoller kreativer Möglichkeiten, machen die beste Arbeit, die wir je gemacht haben, und ich bin begeistert von meinen Geschichten. Ich will das nicht wegen des Geldes aufgeben.«

 

Ed Kashi

1957 geboren, machte Ed Kashi seinen Abschluss in Fotojournalismus an der Syracuse Universität. Der amerikanische Fotojournalist hat während seiner Laufbahn in mehr als 60 Ländern gearbeitet. Er erhielt etliche Auszeichnungen, die seine Vielseitigkeit belegen. Neben World Press Photo Awards auch Preise für exzellente Prints sowie für experimentellen Film.

AKTUELLE PROJEKTE

Kashi widmet sich vor allem langfristigen Themen mit sozialpolitischen Inhalten. Der Fokus liegt derzeit auf dem amerikanischen Gesundheitssystem, worüber ein längerer Dokumentarfilm entstehen soll.

BÜCHER

Curse Of The Black Gold
Dokumentiert den Einfluss von 50 Jahren Ölförderung im Nildelta. powerHouse Books, 2008.

Aging in America
erzählt vom Alterungsprozess der amerikanischen Gesellschaft. powerHouse Books, 2003.

Three
Bei diesem Buch arbeitet Ed Kashi mit dem Zusammenspiel von jeweils drei Fotos. Ebenfalls bei powerHouse Books erschienen.

www.edkashi.com
www.talkingeyesmedia.com

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Uwe H. Martin

arbeitet an Langzeitreportagen – zurzeit an einer fotografischen und filmischen Dokumentation über die sozialen und ökologischen Auswirkungen der globalen Baumwollproduktion. Er produziert seinen ersten Dokumentarfilm über das Alltagsleben von Menschen die an Narkolepsie leiden.