Magazin #26

Absage an die Unverbindlichkeit

Offene Kritik, Praxis orientiertes Arbeiten und eine konsequent journalistische Ausrichtung: So werden an der Fachhoch­schule Hannover Fotografen ausgebildet.

Text – Bernhard Schmidt
Fotos – Andy Spyra

UC-2.12 Expo-Plaza 2, eine zeitgeistig-minimalistische, gläsern-bombastische Giganto-Schachtel, hoch wie eine Wartungshalle für Jumbojets. Da steht man nun im Atrium als Ameise, schaut nach oben und auch nach unten, wo die Halle sich Richtung Erdmittelpunkt fortsetzt. Wo zum Teufel ist UC-2.12? Ah, der Bindestrich bedeutet minus. Es geht zwei Stockwerke abwärts in die Katakomben, zweimal links, dann ein unscheinbarer Raum aus grauen Betonquadern, voilà, schon da, das »Klassenzimmer« der Fotostudenten. Dort trifft man den Chef.

DER HERR PROFESSOR

Unter einem Professor stellt man sich gewöhnlich etwas anderes vor: feinsinniger Denker, vergeistigter Theoretiker, grauer Anzug. Rolf Nobel ist handfester. Der Mann trägt das braune Sweatshirt des FC St. Pauli, und in den Unterrichtsstunden poltert’s immer ein bisschen. Kostprobe: »Für eure Langzeitreportage erwarte ich keine schnarchige Romantikkiste oder eine Reisegeschichte beliebiger Art, man macht die Augen zu, dreht den Globus, tippt drauf und hat ein Reiseziel. So, bitte, nicht.«

Die Studenten des sechsten Semesters hören gespannt zu. Bei Nobel sind alle konzentriert, denn er redet Klartext, ohne Umweg, immer voll auf den Punkt: »Ich möchte nur Themen, die nicht zu weit weg im Ausland sind oder nur, wenn ihr euch einen mehrmaligen Besuch leisten könnt. Denn wenn ihr einmal hinfahrt, anschließend die Bilder auf den Tisch legt, und ich sage 50 Prozent sind Mist, dann habt ihr kein Geld mehr, um nochmal hinzufahren und nachzubessern. Aber das ist der Sinn der Sache. Ihr sollt euch als Fotografen weiter entwickeln.«

Die Langzeitreportage ist eine der Pflichtübungen für die Fotostudenten der Fachhochschule Hannover. Wurde das schon erwähnt? Bei diesem Studiengang liegt der Schwerpunkt auf dem Fotojournalismus, denn Nobel ist selbst altgedienter Fotoreporter mit spürbarer Begeisterung für diesen Job.

DER TEASER

Weiter im Unterricht. Hauptthema ist heute das Exposé, das für die meisten Anwesenden unbekannte Wesen. Wozu ein Exposé, wie hat es auszusehen, was ist der Unterschied zur Summary? Antwort folgt. Nobel präsentiert ein paar seiner eigenen alten Exposés als Muster, die noch heute spannend klingen. Eine Story über die Weight Watchers, eine über einen Hochsicherheitsknast in den USA, eine über ein Orchester in einer psychiatrischen Klinik auf Kuba. Da kriegt man Appetit aufs abenteuerliche Fotografenleben.

»Wenn man zu einem Magazin mit einem Thema geht, braucht man den journalistischen Aufhänger, denn die erste Frage wird immer sein: ,Warum müssen wir denn ausgerechnet diese Geschichte erzählen?‘ Dann muss man etwas parat haben, zum Beispiel: Neue Trends, eine Story, die noch keiner gemacht hat, einen griffigen Superlativ, ein besonderes gesellschaftliches Interesse, eine aufkommende Problematik.«

Er guckt in die Runde. »Ein Exposé ist wie ein Teaser. Dafür braucht man bildhafte Formulierungen, in denen Bild- und Chef–redakteur sofort atemberaubende Doppelseiten vor dem inneren Auge sehen.«

Zwischenfrage von hinten: »Soll man schon Bilder mitschicken?« Nobel: »Wenn man schon eine Geschichte fertig fotografiert hat, dann nennt man das Angebot Summary. Aber darum geht es hier jetzt nicht. Beim Exposé will man den Zuschlag für eine Geschichte bekommen, die noch nicht existiert. Es muss inhaltlich und formal so stark sein, dass es die Leute heiß macht.«

VOM WENIGEN FOTOGRAFIEREN DER FOTOGRAFEN

Die Worte verfehlen ihre Wirkung nicht. Felix Seuffert, ein 24-Jähriger aus dem sechsten Semester, meint: »Bei dem Job ist das eigentliche Fotografieren bloß das i-Tüpfelchen obendrauf. Es gibt ’ne Menge Leute, die super fotografieren, aber trotzdem kein Geld verdienen. Man muss sich auch verkaufen können, viel planen, Genehmigungen einholen und so weiter.« Andy Spyra, 23, zweites Semester: »Das merkt man schon bei unseren Kurzzeitreportagen. Von den zwei Wochen, die wir dafür Zeit haben, fotografieren wir zwei Tage. Der Rest ist Vorbereitung, Organisation, dann Nachbearbeitung, Editing, Drucken.«

Ein Thema dieser Kurzreportagen waren Ärzte. Viktoria Behr, eine 19-jährige, war zwei Nächte an der Notaufnahme eines Krankenhauses. »War schwierig, aber ich bin mit dem Resultat ganz zufrieden.« Patrice Hunte, 22, hat einen Hartz IV-Empfänger in Mecklenburg fotografiert, der mit seiner alten Simson sein Leben gestaltet. »Er lässt sich zumindest nicht hängen und pflegt liebevoll sein Moped«, sagt er, »das ist doch auch schon was«. Er zeigt erste Bilder davon: Keine Frage, der Junge macht das gar nicht schlecht.

Andy ergänzt: »Bei den Kurzreportagen liefern wir acht bis zwölf Bilder. Die hängen wir dann hier im Raum an die Leine, und es wird drüber diskutiert. Man lernt dann, welche Bilder wichtig für die Geschichte sind und welche überflüssig. Man lernt, was ein roter Faden ist, was Redundanz…« Lene Münch, 24, sechstes Semester fährt fort: »…und wie man Rhythmus reinkriegt durch Lichtstimmung und Distanzwechsel.«

ÜBER DAS GELD

Nobels Anliegen ist, die Jungfotografen fit zu kriegen für den rauen Alltag draußen, dabei geht es auch ums Geld: »Wenn ihr den Job kriegt, ist das Wichtigste eine Garantiesumme, damit ihr mindestens den materiellen Einsatz rausbekommt. Da hat es keinen Sinn, bescheiden zu sein. Das Blatt hat schließlich vor, damit Seiten zu füllen, das ist ein Produkt, das am Markt verkauft wird. Journalismus ist nicht etwas ganz Hehres, das losgelöst ist von der Warenproduktion, sondern Verlage machen damit tierisch Geld. Gruner und Jahr zahlt seinen Anteilseignern 13 Prozent Dividende. Das machen sie unter anderem mit den Geschichten, mit denen wir ihre Blätter füllen. Also ist das völlig falsche Bescheidenheit, nicht die Honorarfrage anzusprechen, denn es ist ja Eure Arbeitskraft, die ihr da investiert.«

Es wird ein wenig ängstlich genickt in der Runde, denn vor dem Thema Geld haben die Studenten Bammel. Viele von ihnen sind mit Begeisterung bei der Sache, und man spürt, dass mancher von ihnen vor lauter Idealismus die Verlage subventionieren würde, womit die ja auch kalkulieren. So können sie ihre Rohstoffe günstig einkaufen. Nobel: »Wenn man den Zuschlag kriegt, muss man als nächstes über den Zeitraum sprechen. Die sagen dann, zwei Wochen zahlen wir. Aber das ist zu wenig, denn mit An- und Abreise nach Indien gehen ja schon vier Tage drauf, also drei Wochen müssen es schon sein. Dann jammern sie ein bisschen rum, als wenn sie kurz vor der Pleite stünden. Das zeitliche Volumen müsst ihr aber so ausreizen, dass ihr die Geschichte auch gewuppt kriegt. Ihr tut Euch keinen Gefallen, wenn ihr denkt, oh, ist ja die erste Arbeit für die, und nach zwei Wochen liefert ihr ’ne Scheißgeschichte ab. Dann kriegt man nie wieder einen Job. Bleibt nur die Variante, eine Woche auf eigene Rechnung ranzuhängen, und das kann es ja auch nicht sein.«

VOM TAXIFAHREN

Fachlehrer Knut Volkmar Giebel unterrichtet die eher künstlerischen Aspekte der Fotografie. Projekte stehen an. Das eigene Foto-Festival im August, dann ein lokales Museumsereignis, das im feinsten Marketingdeutsch »Hannover Goes Fashion« getauft wurde, schließlich das Buch »Porträt in der Fotografie 2«, es gibt viel zu tun, und – »alles wird bezahlt«, sagt Giebel stolz. »Es ist toll, dass wir wieder ein offizielles Projekt machen dürfen, mit Finanzierung. Das ist immer besser als nur akademisch für die Schublade zu arbeiten.«

Das zweite Semester, 26 Studenten, drängt sich in dem Gruppenraum. Nun wirkt es doch ein bisschen eng. »Natürlich haben wir noch Hörsäle«, erklärt Giebel, »Medienräume mit Beamern und anderer Technik, das Fotostudio ist gut und groß, und es gibt eine super bestückte Leihe, mit Großbild-, Panorama-, Fachkameras, alles da, auch digital. Dieser Raum hier ist aber nur für uns, das ist ein Privileg.«

Giebel erläutert das Modeprojekt: »Es wird eine Riesengeschichte, wie bei der international voll eingeschlagenen Ausstellung ,Made in Germany‘ im letzten Jahr. Damals haben nur drei Museen Hannovers mitgemacht, jetzt alle. Bei unserem Auftrag geht es um Mode im Barock und in Ägypten. Die Kostüme von den Mode-Studentinnen sind schon fertig, sehr kreativ, sehr verfremdet und extravagant. Ihre Inspiration haben sie sich von den barocken Porzellanfiguren des Museums geholt. Zu Ägypten gibt es eine T-Shirt-Kollektion. All das, auch die Figuren, müssen wir hier bei uns im Studio fotografieren.«

Einige Studenten stöhnen. Giebel reagiert: »Wenn man lernt, das Porzellan richtig auszuleuchten, muss man hinterher vielleicht nicht Taxifahren. Denn die weißen Figuren mit Zeichnung und ohne störende Reflexionen zu fotografieren ist schwierig. Leute, die sowas können, werden immer gesucht.«

AUSLESE

Das Ziel heißt nicht mehr Diplom nach neun Semestern, das Ziel nennt sich nun neudeutsch Bachelor, und der soll nach acht Semestern verliehen werden. Grund ist die internationale Vereinheitlichung, um auch mal die Uni wechseln zu können, doch verstehen tut das keiner der befragten Studenten, denn es sei immer noch nicht einfach umzusiedeln. Warum trotzdem Hannover?

Felix Seuffert: »Es ist die einzige Schule mit vorwiegend journalistischen Profil.« Lene Münch: »Man lernt hier den besten Fotojournalismus. Ich hatte mir das vorher angeguckt, und es hat mir total gut gefallen.« Andy Spyra: »Alle von uns wollen halt am liebsten Fotojournalist werden. Ob es alle schaffen, ist jedoch die Frage. Ich denke bei uns im Zweiten sind es zehn Leute, von den fotografischen Fähigkeiten und von der Art der Persönlichkeit her. Ich denke, beim Fotojournalismus muss es einem leicht fallen, auf Menschen zuzugehen, um das Vertrauen zu gewinnen, außerdem muss man sensibel sein, aber auch seinen Willen durchsetzen können, auch gegenüber Auftraggebern. Sein Handwerk muss man natürlich sowieso beherrschen.«

GURKENGLAS

Nach der Mittagspause steht Bildkritik bei Rolf Nobel auf dem Programm. Sechstes Semester, kleine Fotoreportagen vom letztjährigen Besuch beim Fotofestival »Visa pour l’Image« in Perpignan. Dort hatten die Studenten die Aufgabe, einige Bürger der Stadt in ihrem Alltag zu fotografieren. 120 Bilder davon werden beim nächsten Festival im September ausgestellt, jetzt geht’s um die Vorauswahl. Die Bilder werden mit Klammern an die Leine gehängt. Zum Beispiel:

1. Ein Piercing- und Tätowierungsladen. Nobel: »Wie man sieht, haben wir keine große Wahl. Das Foto rechts, wo die Tätowierfrau raucht, ist völlig aus dem Kontext, daneben steht sie wie ein Schluck Wasser in der Kurve, und das Bild in der Mitte ist relativ komplex mit sehr vielen Überlagerungen. Hier fehlen weitere Alternativen.«

2. Ein Beerdigungsunternehmer. »Seid ihr einverstanden, das dritte Bild rauszunehmen, das ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Und das da muss groß, das ist superschön mit den Grabsteinen und dem Plastikblumenschmuck und er dahinten im Kabäuschen.«

3. Ein griechisch-orthodoxer Pfarrer, der auch ein Obdachlosenheim gegründet hat. »Das zweite von links ist ein Gurkenbild.«

4. Der leicht verrückte Maler, der wie Rumpelstilzchen aussieht. »Das sieht ja wie gestellt aus«, sagt einer der Studenten zu einem Bild, »ich find’s toll, wie er da so diabolisch guckt«, ein anderer. Dennoch: gute Aufnahmen.

5. Der stellvertretende Bürgermeister Perpignans, gleichzeitig Anwalt, sieht nach Gigolo aus. Debatten unter den Studenten. Nobel findet einige Bilder schlicht »langweilig«, fiel da nicht das Gurkenwort?

6. Der Hobbypilot kommt gut an, schöne Lichtstimmungen. Ein Bild aus dem Cockpit ist dabei: »Der hat ja einen Eierkopf. Hast Du etwa wieder mit einem 24er fotografiert?«, fragt Nobel. »17er«, antwortet der Student, »es war halt so eng!«, verteidigt er sich. Die Meinungen darüber, welche Piloten-Bilder es letztlich nach Perpignan schaffen sollen, gehen teilweise diametral auseinander.

7. Der Koch. Als nach gut zwei Stunden alle schon ein bisschen müde sind, kommt dieses Highlight. Viel Lob. Da merkt man wieder: Bei wirklich guten Fotos ist die Sache klar.

Insgesamt liegt das Niveau der Arbeiten erstaunlich hoch. Nobel: »Manche Bilder sind nun nicht so toll, aber die Arbeitsbedingungen waren teilweise auch eine Katastrophe. Dafür ist das Resultat beachtlich.« Auf die Frage, ob er nicht ein wenig unsensibel mit seiner Kritik sei, antwortet er: »Zur Weihnachtsfeier haben sie mir ein Gurkenglas geschenkt, mit Rolfs Obergurken. Ich denke, die verstehen meine Kritik schon richtig.«

DER PREIS

Lene Münch meint dazu: »Harte Kritik finde ich gut. Ich würde ja nichts lernen, wenn man unverbindlich sagen würde, ja, das könnte man eventuell so machen, also zuviel Konjunktiv. Ich will lieber hören: Das ist ein Scheißbild und fertig.«

Und Felix Seuffert findet: »Bei aller Kritik geht man immer auch respektvoll miteinander um. Eine besondere Qualität dieser Schule ist ja gerade, dass gesagt wird, was Sache ist. Nicht nur von Rolf Nobel, auch von den anderen.«

Und ein Lob vom Prof, wie fühlt sich das an, wie der Nobel-Preis? Lene: »Nee, kein guter Joke, aber nach der vielen Kritik schon ziemlich toll.«

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Bernhard Schmidt
arbeitet für Auto- und Reisemagazine, schreibt Reportagen. Meist mit Fotografen unterwegs – etwa Gerd Ludwig und Susan Meiselas – kennt er den Fotografenjob. Er textete den Karl Johaentges Bildband »American Trails«.