Magazin #19

Adenauers Zeugen

Die einen haben die Kamera längst aus der Hand gelegt, die anderen sind noch aktiv: In München treffen sich Fotojournalisten seit 50 Jahren jeden Montag zum Stammtisch.

Text – Judith Rüber

Jahrzehntelang zeigten ihre Bilder den Deutschen die Welt und prägten das kollektive Gedächtnis: 1955 Adenauer in Moskau, 1956 die Fürstenhochzeit von Monaco, 1960 der Baubeginn des Assuan-Staudamms, 1961 der Eichmannprozess in Jerusalem, 1962 das verheerende Erdbeben im Iran. Schließlich – kurz vor dem Sieg des Fernsehens im Wettbewerb um die visuelle Vorherrschaft bei Nachrichten – die Kriege in Algerien, Vietnam und Israel. Seit einem halben Jahrhundert treffen sich die professionellen Augenzeugen heute fast vergessener Ereignisse einmal wöchentlich. Fünf Jahrzehnte, in denen die Erinnerung kürzer geworden ist, die Nachrichten sich beschleunigten.

Inzwischen ist aus den aktiven Fotoreportern eine Riege älterer Herren geworden, flankiert von einer Dame – das allerdings auch schon seit dreißig Jahren. Der eine oder andere Kollege muss die Montagsrunde inzwischen missen und schaut von einer Wolke aus zu, darunter Rudi Dix vom Münchner Merkur und Hilmar Pabel, im Zweiten Weltkrieg PK-Fotograf, der für die Signal arbeitete und später für die Quick und den Stern.

Rund um den ovalen Tisch im Weissen Bräuhaus – auf Münchnerisch das Schneider Weisse – sitzen Männer in den Achtzigern: Hansi Nadler, der langjährige Laborleiter der Quick, Manfred Roedel von Keystone und später Bild, Hans Schrödl, früher Kameramann beim BR Fernsehen, und Alfred Strobel, der für den Stern und die Bunte fotografierte. Zu ihnen gesellen sich – als mittlere Gene­ration – Bruno Arnold von der Revue bzw. der Quick, Rolf Hayo, Arnolds Kollege in diesen beiden Redaktionen, der dann für Eltern und die Freundin arbeitete. Manfred Zettler war bei Bild und der Passauer Neuen Presse. Und immer wieder schaut Horst Faas vorbei, ehemaliger AP-Fotograf und heute Senior Photo Editor der Agentur in London. Auch diese Kollegen haben das Rentenalter schon erreicht, doch Faas und Hayo sind noch beruflich aktiv. Und dann gehören der Runde einige jüngere Kollegen an, nach Meinung der Älteren viel zu wenige; unter ihnen Marlies Schnetzer von der Abendzeitung.

Jeden Montag unterhalten sie sich. Doch es geht dabei keineswegs nur um das Gestern – die Berufstätigen halten den Stammtisch mit aktuellen Projekten und Klatsch aus den Redaktionen auf dem Laufenden, berichten aber auch über Honorarkürzungen und sich stetig verschlechternde Bedingungen im Job. Hansi Nadler erinnert an sein Labor, von 1955 bis 1985 sein Arbeitsplatz und das modernste der Branche: »Wenn man dranblieb, dann bekam man jede Ausrüstung, die man brauchte«, während Marlies Schnetzer meint, dass das Equipment zur Filmentwicklung in ihrer Redaktion jetzt endgültig auf den Hund kommt.

Digitalisierung ist auch ein Thema. Neugierig inspiziert Bruno Arnold Schnetzers Dimage 7. Er ist erstaunt, wie kompakt die Kamera ist, fasziniert von den sofort verfügbaren Resultaten. Keine Frage, das ist alles schneller und bequemer. Auch er habe begonnen, seine Bilder zu digitalisieren – sein Archiv umfasst etwa 300.000 Fotos, etwa die gleiche Menge warf er weg: »Wen interessiert noch Adenauer kaffeetrinkend?« Die Kinder – beide in der Branche – liebäugeln jeweils schon mit diesem Erbe.

Überdauert hat auch das Archiv von Rudi Dix, der 1995 starb; Heinz Gebhardt übernahm es für seine Agentur Münchenfoto. Horst Faas’ Bildbestände pflegte anfangs seine Mutter. Später lagerten die Kisten ungeöffnet auf einem Speicher, und unlängst hat er nach einem Wasserrohrbruch den größten Teil vernichtet. »Bei der Durchsicht war ich überrascht, wie viel ich in Ermangelung von Korrespondenten geschrieben hatte.«

Gar nicht erst gefragt wurden Manfred Roedel und Manfred Zettler, beide einmal bei der Bild fest angestellt – die von ihnen gelieferten Fotos kamen in mehreren Fuhren auf die Mülldeponie. Doch man gewinnt nicht den Eindruck, dass ihnen die Vernichtung ihres Lebenswerks besonders nahe geht. Tempi passati. Das gilt auch für Alfred Strobel. Vor zwanzig Jahren hat er seine Kameras aus der Hand gelegt und seitdem nicht mehr angerührt – sie liegen sicher verwahrt im Tresor.

Fotojournalisten – oder wie es im Impressum der Revue hieß: Bildreporter – sind sie fast alle per Zufall geworden. Aus dem Krieg oder der Gefangenschaft kehrten sie als unruhige, ja abenteuerlustige Geister zurück. Manfred Roedel, der vor dem Krieg eine Lehre in einem Fotoladen gemacht hatte, war zwei Jahre an der französischen Mittelmeerküste als Minenentschärfer tätig – »eine Zeit, die ich nicht missen möchte«. Seine Ausbildung führt ihn zuerst zu Keystone ins Labor, doch bald ist ihm das zu langweilig, und er beginnt für die Agentur zu fotografieren.

Alfred Strobel, ebenfalls ausgebildeter Laborant, fängt bei der Süddeutschen Zeitung gleich als Fotograf an. Er arbeitet auch für die Münchner Illustrierte, die ab 1950 im Süddeutschen Verlag erscheint und 1960 von Burda übernommen wird. Doch bevor Strobel bis zum Ende seiner Laufbahn Senator Franz Burdas »Leibfotograf« wird, klopft Henri Nannen bei ihm an und wirbt ihn als exklusiven Stern-Reporter. Darauf ist Strobel noch heute stolz: »Persönlich hat er bei mir angerufen und sich mit mir im Augustiner Bräustüberl verabredet, wir wurden uns schnell einig.« Es fällt auf, dass das Verhältnis der Fotojournalisten zu ihren Verlegern damals sehr eng war.

Bruno Arnold wollte eigentlich – wie auch Horst Faas – schreibender Jour­nalist werden, doch als er sah, dass Bildberichte das vierfache Honorar der Wortberichte erzielten, griff er zur Kamera. In seinen vielen Einsätzen in Krisengebieten setzte er später durch, dass er für Text und Foto verantwortlich war. Auf sich allein gestellt, konnte er flexibler und sicherer arbeiten. Solo reiste er auch für die Revue Anfang der 60er Jahre nach Lambarene zu Albert Schweitzer und kam nach fünf Tagen – kurz vor Redaktionsschluss – wieder zurück. Über das Material war er beglückt, doch dann verhunzten die Kollegen die Seiten. Müde und grantig verließ Arnold die Redaktion. Im Aufzug begegneten ihm Verleger Helmut Kindler und dessen Frau Nina, die ihn auf seine schlechte Laune ansprachen. »Sofort machte das Ehepaar Kindler, das sich auf dem Heimweg befand, kehrt, und Kindler selbst gestaltete die Seiten neu.«

Die Illustrierte hatte ihre Blütezeit zwischen 1955 und 1965, sie war großformatig und ihr Layout großzügig. Tagespresse und Radio brachten die Nachricht, das Bild hatten die Illustrierten: »Revue gelesen – dabei gewesen.« Die Fotografen waren der Garant ihres Erfolges: Aktuell mussten sie sein, schnell mussten sie sein; die Verkehrs- und Kommunikationswege standen dem entgegen. Noch vor dem fotografischen Auge zählten Hartnäckigkeit und Improvisationsvermögen. Belohnt wurde die Mühe mit bis zu 16-seitigen Bildstrecken, anständigen Honoraren und Spesen. Bruno Arnold – ganz Herr – flog nur erster Klasse. Alfred Strobel blieb bayrisches Urgewächs und ließ sich in Nizza nicht vom Hotel Negresco beeindrucken: »Des is mir z’ laut gewesen, des Meer.«

Neben Münchner, Stuttgarter, Deutscher und Neuer Illustrierter buhlten vor allem die Revue aus dem Münchner Kindler-Verlag, die Quick – herausgegeben vom Verlag Martens & Co., ebenfalls in München –, der Stern und Die bunte Illustrierte um die Gunst des Publikums. Franz Burda, Pionier im farbigen Tiefdruck, setzte mit der Bunten früh auf Farbe. Die Fotostrecken der Konkurrenz waren lange schwarz-weiß, farbig nur die meist gezeichneten Anzeigen. Den ausführlichen Reportagen folgten Kommentare, Serien, Magazinseiten und der Fortsetzungsroman. Der weitgehend seriöse Journalismus hatte die Oberhand. Die Präferenz verschiedener politische Lager ließ sich ausmachen, doch in jenen Jahren waren die Gemeinsamkeiten größer als die Unterschiede.

Loriot, Johannes Mario Simmel, Hilmar Pabel und Franz Hubmann sind durch die Quick bekannt geworden, Diether Stolze durch seine Wirtschaftanalysen in der Revue. Robert B. Lebeck und Stefan Moses waren von Mitte der 50er bis etwa 1960 exklusive Bildreporter der Revue. Einige von ihnen tilgten diese Zeit diskret aus ihrem Lebenslauf. 1960 hatte die Bunte eine wöchentliche Auflage von etwa 800.000 Exemplaren, die Revue erreichte die Million, Stern und Quick verkauften sich je 1,2 Millionen mal, hier war die Konkurrenz erbittert.

Mitte der 60er-Jahre kauft der Heinrich Bauer Verlag die Quick und die Revue, die mit der Neuen Illustrierten zur Neuen Revue vereint wird. Die illustrierte Presse mutiert zur Regenbogenpresse, die Qualität sinkt. Eine gedruckte Wochenschau ist durch das Fernsehen obsolet geworden. So sind es heute auch die Fernsehjournalisten – schon gar, wenn sie der eigenen Generation angehören und noch beruflich aktiv sind –, die Wehmut bei Bruno Arnold aufkommen lassen: »Gestern Abend habe ich Peter Scholl-Latour beneidet, der noch einmal die Möglichkeit hat, aus dem Irak zu berichten.«

Wer in dieser Welt Fuß gefasst hatte, dessen Wege kreuzten sich immer wieder mit denen der Kollegen, Freundschaften fürs Leben wurden geschlossen. Horst Faas und Hanni Leeb, der spätere stellvertretende Chefredakteur der Quick, sind zusammen in die Schule gegangen. Einmal im Monat trifft sich im Schneider Weisse parallel zum Fotojournalisten-Stammtisch auch ein Quick-Stammtisch, die Verbindung wird bis heute aufrecht erhalten. Leeb war als Redakteur mit Alfred Strobel unterwegs, später arbeitete er mit Bruno Arnold zusammen. Arnold und Horst Faas kennen sich aus Vietnam. Manfred Zettler hat für die Quick gearbeitet, ebenso Rolf Hayo. Der ist der einzige der Runde, dessen Berufswunsch es war, Fotograf zu werden. Seine Faszination begann, als Franz Hubmann für die Quick eine Reportage über seine Schule machte. Auf einem der veröffentlichten Bilder ist er dann auch zu sehen. Ein knappes Jahrzehnt später teilen die beiden einen Schreibtisch bei der Quick. Hansi Nadler war als Laborspezialist für alle die rettende Hand.

Die Bildreporter der Konkurrenz und der Agenturen traf man auf überschaubaren Presseterminen mit fünf, sechs Fotografen und zwei, drei Kameramännern, so fand Hans Schrödl in die Runde. Bei großen internationalen Terminen waren es dann auch mal dreißig Kollegen. Der Münchner Stammtisch war ein geselliger Mittelpunkt, Jobbörse und Anlaufstelle. »Wenn man einen Termin in München hatte, dann sah man, dass der Montag mit dabei heraussprang«, erinnert sich Horst Faas. Und macht es noch heute so.

Namen, Zusammenhänge, Anekdoten – Insiderwissen, Erinnerungen an ein Stück Journalismus- und Fotogeschichte. In den letzten Jahren sind Geburtstage, aber auch Krankenbesuche und Beerdigungen ins Zentrum der Begegnungen gerückt. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, denn es ist das einzige, was ich noch nicht erlebt habe. Als Fotograf hatte ich ein erfülltes Leben«, resümiert Bruno Arnold, »doch ich habe Angst, dass keiner mehr da ist, der mir eine anständige Beerdigung ausrichtet«. Lacht und wendet sich an Walter Remus, den ehemaligen CvD der Quick, der lange für Arnolds gut gepolstertes Spesenkonto sorgte, und meint: »Dafür bist du zuständig, du musst mich überleben.«

In memoriam Alfred Strobel
* 10.8.1917 † 21.10.2003

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Judith Rüber
ist freie Autorin in München. Ihre Themenschwerpunkte sind das Verlagswesen und Italien. Mit Jan Kobel veröffentlichte sie den Bildband und Reiseführer Venedig für Müßiggänger.