Magazin #19

Autor, nicht Illustrator

Nachhaltigkeit statt Tempo, Mensch statt Meldung: In seiner fast 25-jährigen Tätigkeit als Fotojournalist hat Stuart Franklin eine eigene Arbeits- und Medien-Philosophie entwickelt. Und die lässt Marktmechanismen immer stärker außer Acht.

Text – Kay Dohnke

Der junge Mann im weißen Hemd steht kerzengerade, stocksteif zuerst; die Arme liegen gerade am Körper an, der Kopf ist erhoben, der Blick nach vorn gerichtet. Ihm direkt gegenüber ist eine Reihe von Panzern aufgefahren. Egal, zu welcher Seite ihm der vorderste Panzer ausweichen will, der junge Mann stellt sich dem stählernen Koloss immer wieder in den Weg. Peking, Platz des Himmlischen Friedens, 5. Juni 1989.

Die Szene – nur ein Moment während der Studentenproteste, die in einem Blutbad enden – wurde weltweit vom Fernsehen gezeigt. Doch erst im Foto gewann die mutige Aktion des Studenten Wang Wei Lin dauerhaft Symbolgehalt, wurde zur Ikone: in einer Aufnahme von Stuart Franklin mit dem Titel »Lone Protestor, Tiananmen Square, Beijing«.

BERÜHMTES BILD – UNBEKANNTER FOTOGRAF

Gibt man den Namen Stuart Franklin in eine Internet-Suchmaschine ein, erzielt man zahllose Treffer: Weltweit bieten Händler die Aufnahme als Poster an – Informationen über den Fotografen und seine Arbeit hingegen sind rar. Obwohl er zahllose große Reportagen publiziert und mehrere Bücher herausgebracht hat, wird Franklin vor allem mit dem Beijing-Bild identifiziert.

Er selbst beurteilt es kritisch: »Ich bin nie der Meinung gewesen, dass es ein besonders gutes Foto ist. Auf gewisse Weise wurde es erst im Gefolge der Fernsehberichterstattung jener Tage zu einem ikonografischen Bild. Das Fernsehen zeigte, wie der Mann sich vor den Panzer bewegte, und meine Aufnahme wurde dann zur Erinnerung an das Ereignis. Es frustriert mich, dass ich nicht näher dran war, doch das war unmöglich, und so benutzte ich eine absurd lange Brennweite.«

Auch wenn sein Symbolgehalt das Bild aus Beijing zu Franklins bekanntester Aufnahme gemacht hat, ist es keineswegs repräsentativ für seine Arbeit. Es bildet viel eher eine Art späten Schlusspunkt für eine Werkphase, die tatsächlich schon knapp fünf Jahre zuvor endete, nämlich mit seinem Wechsel von Sygma zu Magnum.

In der Rückschau betrachtet war dieser Schritt nur folgerichtig. Der 1956 geborene Franklin kam erst als Siebzehnjähriger zum Fotografieren. Nachdem er am West Surrey College of Art and Design Fotografie und Film sowie an der University of Oxford Geografie studiert hatte und Fotojournalist geworden war, ging er 1981 zur Sygma Agence Presse nach Paris. Der Job ermöglichte ihm zahllose Reisen, und nebenher realisierte Franklin nicht-kommerzielle Langzeitprojekte zu sozialen Themen.

Zu jener Zeit, als die Nachrichtenfotografie von Schwarzweiß auf Farbe umstellte, herrschte für Bildreporter Hochkonjunktur. »Die Achtziger waren eine sehr lebendige Zeit«, erinnert sich Franklin, »aber man war nur Illustrator, lieferte nur eine Art Fernsehstandbild von den Ereignissen. Wenn man vom Job zurückkam, saß da oft jemand vor dem Fernseher und fragte, ,He, hast du auch diese Panzer fotografiert?‘ oder ,Hast du das da auch mitgebracht?‘«

Nachdem er die Hungerkatastrophe in der Sahelzone dokumentiert hatte, wechselte Franklin 1985 zu Magnum. »Das bot mir die Unabhängigkeit, die ich in der stärker kommerziellen Agentur in Paris nicht hatte.« Und ihm gefiel, dass hier nicht ausschließlich das aktuelle Ereignis den Inhalt der Arbeit vorgab: »Wir mussten die Geschichten selbst bestimmen und auch die Weise, wie wir sie erzählen wollten.«

VIEL ZEIT FÜR LANGE REPORTAGEN

Ab 1990 bekam Franklin noch mehr Distanz zur schnelllebigen Arbeit eines Nachrichtenfotografen. Aus einer ersten Geschichte für das National Geographic Magazine wurde eine Folge von bislang über 20 großen Reportagen, die ihn immer wieder nach Lateinamerika, nach Asien und vor allem nach China führten. Und die gewährten Privilegien wie ein großzügiges finanzielles und fast unbegrenztes zeitliches Budget, die die Arbeit für das renommierte Magazin mit sich brachte, verstärkten seine Idee, sich jenseits des aktuellen Geschehens vorrangig auf Porträts von Regionen und ihren Menschen zu spezialisieren.

Schließlich tat Franklin einen dritten Schritt zu mehr fotografischer Autonomie: Er veröffentlichte sein erstes Buch, Time of Trees. Dahinter steckte eine Philosophie: »Mich irritierte die Tendenz, die Fotografie in verschiedene Genres aufzusplitten – wir haben Landschaftsfotografen, People-Fotografen, Sportfotografen, Pferdefotografen, Unterwasserfotografen. Beim meiner Annäherung an das Thema Umwelt frustrierte mich dieser dualistische Blick auf die Dinge sehr, und ich wollte ein Buch machen, das Bäume als eine Art Metapher benutzt, um zu zeigen, dass wir und die Natur eins sind; wir sind keine getrennten Welten.«

Die große Form – das Buch – blieb künftig ein Element in Franklins Arbeit. Dabei kam ihm aber ein wesentlicher Umstand zugute: Viele der Bilder entstehen neben den Reportagen, für die ihn namhafte Magazine und Zeitungen wie Geo, Sunday Telegraph, Independent Magazine, Newsweek, Sunday Times Magazine und immer wieder National Geographic um die Welt schicken. Diese nicht zuletzt auch finanziellen Synergien erleichtern seine Arbeit deutlich.

Auch an seinem neuesten Buchprojekt – The Dynamic City – arbeitete Franklin parallel zu aktuellen Jobs und griff auf Material aus dem eigenen Archiv zurück. Es zeigt das urbane Leben weltweit in vielfältigen Facetten und bringt Fotos, »die die Menschen vielleicht weniger als Opfer zeigen, sondern eher als selbstbestimmte Akteure mit einem Sinn für ihre eigenen Fähigkeiten, ihre Lage zu verbessern und das beste aus ihrer Situation zu machen“.

DOKUMENTARISCHER ANSPRUCH

Generell steckt sich Franklin anspruchsvolle Ziele: »Es ist immer schwierig, die gewöhnlichen Dinge zu fotografieren, die gewöhnlichen Menschen. Viele Leute in der Stadt gehen einfach nur zur Arbeit, in Jacke und Schlips, und sie sitzen an ihrem Schreibtisch vor einem Computer – das ist eine wirkliche Herausforderung für einen Fotografen. Man könnte sich sagen, ,Ach, ich geh’ lieber und fotografiere die Menschen, die die Müllhalden durchwühlen.‘ Aber ich fühle eine Verantwortung als Dokumentarfotograf, als Fotojournalist, zumindest ansatzweise mit einer Idee davon zurückzukommen, wie unsere Welt wirklich ist.«

Diese Position – eng mit dem Anspruch auf autonome Autorenschaft verbunden – führt auch fort aus der Sackgasse, dass die Magazinredaktionen sich überwiegend an aktuellen Ereignissen orientieren und meist schon eine Vorstellung von den Fotos haben. »Die Arbeit ist wirklich schwierig, wenn bei den Magazinen eine Art Hunger nach sensationsheischenden Bildern herrscht und wir Fotografen ein sensiblere Sicht auf die Welt haben, die die Redakteure vielleicht nicht schätzen.«

Dem setzt Franklin – wohl um die Schwierigkeiten wissend – ein anderes Modell entgegen: »Wenn wir nicht einfach nur Illustrationen beisteuern, sondern eine Geschichte mit einem eigenen Standpunkt liefern, könnte es einfacher sein, etwas zu publizieren. Viel von dem, was ich bei National Geographic unterbringen konnte, wurde mir nicht auf einem Silberteller präsentiert; niemand kam und fragte, kannst du uns eine Geschichte über Städte in der Dritten Welt liefern.«

Nach 25 Jahren Arbeit als Fotojournalist zieht Stuart Franklin folgendes Fazit: »Mehr und mehr glaube ich heute, dass wir über die Magazine hinausdenken müssen – dass wir über neue Arbeitsweisen nachdenken müssen und wie wir diese Arbeiten platzieren. Ich habe mich deshalb immer mehr auf die Arbeit an Büchern konzentriert, und hierbei nicht nur einfach auf das Fotografieren, sondern auch auf das Schreiben der Texte. Das ist Teil des Prozesses, die Autorenschaft des Projektes zu übernehmen, und es ist wichtig, um eine originale Perspektive zu vermitteln, die sich von all dem unterscheidet, was das Fernsehen zeigt. Es geht um den eigenen Blickpunkt, die eigene soziale und politische Position, die man da draußen findet.«

STEWARD FRANKLIN
Geb. 1956 in London. Studium der Fotografie am West Surrey College of Art and Design. Seit 1985 Magnum-Mitglied.
PREISE: 1985 Christian Aid Award for Humanitarian Photography und Tom Hopkinson Award for Published Photography, 1991 World Press Photo Award.
BÜCHER: Tian’anmen Square (A. J. Vine 1990), The Time of Trees (Mondadori 1999, Art Books International 2000), Trees (Edizioni Charta 2002), La Città Dinamica (Mondadori 2003).