Magazin #19

Ein Grabmal für Fotografen

Voller Begeisterung hat sich die Fachpublizistik über das von Hans-Michael Koetzle verfasste »Lexikon der Fotografen« geäußert. Doch handelte es sich dabei vornehmlich um Variationen des Pressetextes, der seinerseits aus dem Vorwort des Autors zitiert. Ein Blick in das Buch selbst liefert interessante Aufschlüsse.

Text – Enno Kaufhold

Ratespiele haben Konjunktur – auf jedem Niveau. Auch Hans-Michael Koetzles Fotografenlexikon mit seinen Kurzbeschreibungen bietet besten Rätselstoff. Wer errät die Namen? »Narrative (Selbst-)Inszenierungen im Dienst einer aus feministischer Sicht vorgetragenen Medien- und Kulturkritik. International bekannteste Vertreterin postmoderner Kamerakunst.« Oder: »Modefotografie, Porträts, Akte in S/W und Farbe. Als Interpret erotischer Fantasien einer der meistdiskutierten Kamerakünstler der 80er und 90er Jahre.« Die Lösungen folgen später – für’s erste sollen die Zitate den originalen Textduktus wiedergeben, mit dem die gut 500 Fotografinnen und Fotografen in diesem vierfarbig gedruckten Mehrpfünder charakterisiert werden.

Unter den Positiva dieses Lexikons verdient vor allem der benutzer- und lesefreundliche einheitliche Aufbau Erwähnung: Dem Fotografennamen folgen das Geburts- und Todesdatum mit den jeweiligen Orten und bei noch lebenden Fotografen dem aktuellen Wohnort; fett gedruckt leiten ein paar Zeilen, wie zitiert, telegrammartig die Biografie ein; diese wird mit einer ebenfalls fett gedruckten, zumeist aus fremder Feder stammenden Charakterisierung abgeschlossen; auf jeweils etwa acht Zeilen folgen die wichtigsten Ausstellungs- und Literaturhinweise; eine abschließende Konkordanzzeile signalisiert, ob und in welchem der bislang vorliegenden und von Koetzle einbezogenen Lexika der betreffende Fotograf zu finden ist.

Von fast allen Fotografen werden Arbeiten abgebildet, als eigenständige Versionen sowie in den Formen, wie sie in Zeitschriften und Büchern publiziert wurden und sich mit wenigen Ausnahmen im Besitz des Autors befinden. Das verleiht dem Lexikon einen ansprechenden Bildbandcharakter. Separate Texte in den Marginalleisten bieten ergänzende Informationen zu einzelnen Sachthemen und Fachbegriffen. Mit einem rund 4.000 Namen, Begriffe und Institutionen verzeichnenden Register, das noch einmal den Faktenreichtum unterstreicht, schließt das 528-seitige Lexikon ab.

Positiv hervorzuheben sind weiterhin die Neuaufnahmen: jüngere, in den sechziger Jahren geborene Fotografen wie Antoine D’Agata, Boris Becker, Igor Mukhin, Philippe Pache, Bastienne Schmidt, David LaChapelle, Thomas Demand, Jürgen Teller, Nick Waplington, Michael Ackerman, Elger Esser oder Wolfgang Tillmans, aber ebenso ältere wie die Life-Fotografen Paul Almasy, Clemens Kalischer oder Johan van der Keuken oder die bislang unterschlagenen Fotografinnen Gertrud Arndt, Eva Besnyö oder Marta Astfalck-Vietz; hinzu kommen diverse Modefotografen der Nachkriegsjahre wie Lillian Bassman, Anton Bruehl, Ted Croner, Saul Leiter, Herbert Matter oder Jean Moral, eine Reihe von Fotografen aus dem Wirkungsfeld der DDR und zwei Dutzend aus der Sowjetunion, die von der russischen Koautorin Tatiana Salzirn be­schrieben werden.

So betrachtet ist dieses nicht gerade billige Lexikon allemal sein Geld wert. Gleichwohl gibt es aber jenseits der akribischen Detailfülle problematische Punkte. Das beginnt mit der notgedrungen subjektiven Auswahl: Hans-Michael Koetzle favorisiert – wie allein die beiden obigen Kurzbeschreibungen von Cindy Sherman und Helmut Newton (und das war die Lösung) verraten – die künstlerische Fotografie, oder besser gesagt: was er für fotokünstlerisch hält. Was haben die Art Directoren Alexey Brodovitch, Rolf Gillhausen, Willy Fleckhaus, Peter Knapp, Alexander Liberman und Henry Wolf angesichts ihres doch nur indirekten Einflusses in einem Fotografenlexikon zu suchen? Was macht Hans Bellmer, Hannah Höch oder Andy Warhol zu Fotografen? Warum fehlt dann Christian Boltanski? Und wenn schon Moshé Raviv-Vorobeichic Erwähnung findet, der nur kurzzeitig in Wilnius und Paris fotografiert hat, warum fehlen dann Roman Vishniac oder Alter Kacyzne mit ihren allemal besseren Szenenbildern jüdischen Lebens?

Hans-Michael Koetzle öffnet mit der Modefotografie zwar erklärtermaßen den Blick auf die angewandte Fotografie ebenso wie auf den Bildjournalismus. Doch wenn schon Michael von Graffenried als Bildjournalist berücksichtigt wird, warum fehlen dann Hilmar Pabel, Timm Rautert, Volker Hinz oder Hans-Jürgen Burkard? Überhaupt: Wo bleiben politische Fotografen wie etwa Günter Zint? Da auch Katharina Sieverding und Astrid Klein als Künstlerfotografen sowie aus der NS-Zeit Max Ehlert, Hans Hubmann oder Herbert Gronefeld unerwähnt bleiben, drängt sich der Verdacht auf, alles Politische sei bewusst ausgeklammert worden. Des Weiteren fehlen Repräsentanten der Farbe wie Erwin Fieger, Peter Cornelius oder Eliot Porter, des Porträts wie Lieselotte Strelow, der Reise- und Städtefotografie wie Waldemar Titzenthaler, Max Missmann, Kurt Hielscher, Martin Hürlimann oder Manfred Hamm und Sachfotografen wie Walter Hege oder Willi Moegle. Sind sie alle irrelevant? Hofiert wird neben dem, was gegenwärtig en vogue ist, ein durch und durch konservatives »Künstlerfotografen«-Bild.

Schließlich knüpfen sich an das Cover wie den Schuber Bedenken. Mit ihrem schwarzen Grundton und den hell eingedruckten Fotografennamen verweisen sie zwar auf das Schwarzweiß der Fotografie, doch erinnert der massive Buchblock eher an einen Grabstein. Das lässt Assoziationen an das Vietnam Memorial in Washington, D.C. aufkommen, das die Namen der in Vietnam zu Tode gekommenen 53.000 US-Soldaten auf schwarzem Marmor auflistet.

So besehen gleicht dieses Lexikon einem »Gedenkstein« für bereits verstorbenen wie noch lebenden Fotografen. Im Charakter gilt das für jedes Lexikon – aber so augenscheinlich hat sich dieser Sachverhalt selten aufgedrängt.

Hans-Michael Koetzle
Das Lexikon der Fotografen.
1900 bis heute
München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 2002.
528 Seiten. 98 Euro

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Enno Kaufhold
studierte Kunst und Fotografiegeschichte. Promotion, freie Tätigkeit als Fotograf, Fotohistoriker, Kurator, Lehrbeauftragter, Gutachter; seit 1990 in Berlin. Zahlreiche Publikationen, zuletzt zu Waldemar Titzenthalers Interieurfotografie.