Magazin #13

Eine neue Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts

Der Anspruch ist hoch, die Zahl der Bilder eindrucksvoll: In 500 Fotos will die Ausstellung »How you look at it« nichts Geringeres als die »künstlerischen Höhepunkte der Fotografie des 20. Jahrhunderts und ihre bedeutendsten Vertreter« zeigen, intermedial durch Gemälde und Skulpturen kontrastiert. Doch die Menge der Exponate kann Mängel in der Konzeption nicht verdecken

Text – Dr. Enno Kaufhold

Kaum zu glauben, diese Erregung: Seit 160 Jahren gibt es technisch erzeugte Bilder, nämlich Fotografien – und alle Welt zeigt sich verblüfft über die einer Museumsausstellung zu Grunde liegende Einsicht, dass »Malerei, Skulptur und Fotografie in gleicher Weise Teil haben an den zentralen Paradigmen der ästhetischen Moderne« und damit am »grundsätzlichen Wandel des Bildverständnisses« (Katalog S. 49). Die Rede ist von der Ausstellung »How you look at it« im Sprengel Museum Hannover, die gut 500 Fotografien von 37 FotografInnen des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit 30 Gemälden und Skulpturen präsentierte (sie wurde im Anschluss im Städel Museum in Frankfurt am Main gezeigt).

Keine Besprechung in den Feuilletons, die nicht das Intermediale dieser Ausstellung als Besonderheit hervorhob. Und das war kein Einzelfall, zuvor wurden in Köln August Sanders Fotografien in den Kontext der textlichen und bildnerischen Arbeiten seiner Freunde und Kontaktpersonen gestellt, was den Rezensenten Ludger Derenthal veranlasste, in der FAZ vom 10. Juli sogar von einem »Paradigmenwechsel in der deutschen Kunstgeschichtsschreibung« zu sprechen.

Wie konnte und kann es auch nur die geringsten Zweifel am Interagieren aller Medien, der sprachlichen wie der bildnerischen, geben? Das müsste elementares Basiswissen sein, gerade für die Bildexperten; wie die Praxis aber definitiv zeigt, ist dem nicht so. Allein die Betonung des Intermedialen in den Rezensionen – das ist gewissermaßen der aktuelle Lackmustest – hebt die inzwischen unisono anzutreffende Meinung auf, die Fotografie sei aufgewertet und in den Kanon der Kunst aufgenommen worden. Solange es noch ein öffentliches Erstaunen gibt, wenn Fotografien in Verbindung mit traditionellen Bildformen wie Grafik, Malerei oder Skulptur ausgestellt werden, kann von wirklicher Integration der Fotografie in die Kunst nicht gesprochen werden.

Dem Besucher in Hannover – ich spreche hier nicht von Frankfurt, wo die Ausstellung in einer veränderten Präsentation zu sehen war – bot sich über das ganze Erdgeschoss großflächig ausgebreitet eine optisch einnehmende Ausstellung mit herausragender Präsentationsästhetik. Mehr noch beeindruckte die Ausstellung durch die Zusammenführung bedeutender Namen aus der Geschichte der Fotografie und da wieder mit größeren Werkgruppen: Eugène Atget, Paul Strand, Charles Sheeler, August Sander, Albert Renger-Patzsch und Karl Blossfeldt gehören wie aus jüngerer Vergangenheit Diane Arbus, Bernd und Hilla Becher, William Eggleston, Lee Friedlander, Robert Adams, Cindy Sherman, Nicholas Nixon, Stephen Shore, Axel Hütte, Thomas Struth, Andreas Gursky oder Michael Schmidt zu den mit Recht als anerkannte Größen ausgestellten Bildautoren. Die Gemälde und Skulpturen waren bestimmten Serien der Fotografien zugeordnet. So unterteilte – um ein Beispiel zu beschreiben – ein kleinformatiges Gemälde von Jasper Johns mit schießscheibenähnlicher Farbstruktur die Reihe der von Robert Frank 1955/56 fotografierten emotionsgeladenen Amerikaporträts, seitwärts abgeschlossen von einer Querwand mit einem größerformatigen blauschwarzen Farbfeldgemälde von Mark Rothko.

Möglich gemacht wurde dieses auch finanziell aufwendige und herausragende Projekt durch die Niedersächsische Sparkassenstiftung in Verbindung mit dem Kulturprogramm der EXPO 2000. Schon allein die Ansammlung von Werken so namhafter Bildautoren, die in wichtigen Teilen aus dem Ausland kommen, machte den Besuch lohnend – auch deshalb, weil sich die persönliche Begegnung mit den Originalwerken, den Vintages, nicht durch Reproduktionen ersetzen lässt. Und durch die in dem parallel erschienenen Katalog schon gar nicht.

Angesichts der vor Ort fehlenden Hinweise auf die konzeptionellen Hintergründe stand die Ausstellung für sich, und erst der begleitende Katalog liefert ausgebreitet auf fast 100 Seiten Text das theoretische Konzept. Genauer gesagt: vor allem der Text von Heinz Liesbrock, dem zweiten Kurator der Ausstellung neben Thomas Weski. Während dieser mit vielen kleinen »Ungewußtheiten« im Einleitungstext die frühere Fotografie und dann bekannte Fakten zu den ausgestellten Fotografen referiert, geht Liesbrock – offenbar der maßgebende Theoretiker dieser Ausstellung – in einem zwar problematischen, aber dennoch lesenswerten Text den »Perspektiven des Wirklichen in Fotografie und Malerei« nach. Die Stilbegriffe des 20. Jahrhunderts, den kunstgeschichtlichen »Königsweg der Moderne« sowie die »Nebenwege« und die Differenzierungen zwischen real und abstrakt negierend, erhebt er – als Kernthese der Ausstellung – die realitätsbezogene Fotografie zur entscheidenden und wichtigsten Kunstform der jüngeren Vergangenheit.

Und was die Konfrontation der Fotografien mit Werken der traditionellen bildenden Kunst betrifft, interessieren nach seinen Ausführungen weniger die äußerlichen Interdependenzen wie Motivgleichheiten, Perspektiven, Vorbilder oder persönliche Bekanntschaften als vielmehr Generationen überspannende »Tiefenströme« und »Wahlverwandtschaften« (46). Damit sollen dem Besucher als weiterem »Partner dieses Gesprächs« mögliche »Leseweisen« unterbreitet werden (49).

Während die Gemeinsamkeiten bei äußerlich so verschiedenen Bildern wie denen von Robert Frank, Jasper Johns und Mark Rothko einleuchten und für sich ein Assoziationsfeld abstecken, bleiben doch bei den – auch im Katalog nicht weiter interpretierten – Gegenüberstellungen häufig Zweifel, welche Bezüge gemeint sein sollen: Welche Verbindung besteht zwischen den neuen, mit Ringblitz fotografierten Frauenbildern von Michael Schmidt und dem daneben angeordneten, 1906 entstandenen Frauenporträt von Picasso und einer Giacometti-Skulptur? Die Referenzwerke trennen oft Jahre, es werden sogar mehrere Gemälde gezeigt, die aus dem 19. Jahrhundert und damit aus ganz anderen Zeiten und Zusammenhängen stammen als die ihnen zugeordneten Fotografien. Hierbei entgleiten die Referenzen – zumal verbalisierte »Sehhilfen« fehlen – in unverbindliche Beliebigkeit.

Und auch sonst scheint es nicht so genau darauf anzukommen: Jasper Johns’ erwähntes Gemälde mit Zielscheibe unterbricht im Katalog – anders als in der Ausstellung – zwei Serien von Walker Evans, was ebenfalls für Beliebigkeit spricht. Sicher kommen auch bei solchen Kontextualisierungen mit großen zeitlichen Differenzen ungeahnte Assoziationen und Ideen auf, doch welche objektivierenden Schlüsse lassen sich ziehen?

In dieser Beliebigkeit gab die Ausstellung ihren Ideengehalt dem Zufall und der Willkür in der Rezeption preis. Auch das entwertet sie, ungeachtet der interessanten Stücke aus der traditionellen bildenden Kunst.

Gewiss, hier ist eine gegenüber der Fotografie relativ vorbehaltlose Ausstellung zusammengebracht worden. Die bewusste Reduktion auf die »Wirklichkeitsbezogenheit« macht aber aus dem Projekt, entgegen den schriftlichen Beteuerungen, eine neue »Königslinie« (um nicht von einer Ideologie zu sprechen), die nicht nur anfechtbar, sondern in ihrer willentlichen Einseitigkeit auch als falsch anzusehen ist. Zu keinem Zeitpunkt der Kunstgeschichte existierten ausschließliche Positionen, sondern allenfalls vorübergehend dominierende Vorlieben (mit entsprechenden Marktvorteilen); ansonsten koexistierten – wie auch Liesbrock einräumt – die unterschiedlichsten Richtungen.

Es befremdet, wenn von den Ausstellungsmachern einerseits mit großem kunsttheoretischen Aufwand eine vorgebliche Tradition wirklichkeitsbezogener Fotografien auf den Sockel der Kunstgeschichte gehoben und damit der Wirklichkeitsbezug zum Primat gemacht wird, und ihnen andererseits ohne Mühe nachgesagt werden kann, dass sie selbst kein rechtes Verhältnis zur Wirklichkeit, also zur komplexen Geschichte einschließlich der Kultur- und Mediengeschichte haben. Angesichts der für das 20. Jahrhundert charakteristischen disparaten Entwicklungen, die zeitgleich wie versetzt abliefen, national wie international, zeigte die Kunst und mit ihr die Fotografie beileibe weit mehr wirklichkeitsbezogene Facetten, als uns diese Ausstellung suggerieren will. Wenn wir es bei dem ausgestellten Gemälde von Mark Rothko mit einer »welthaltigen« Farbabstraktion zu tun haben, die in anderer Weise das artikuliert, was Robert Frank wenig früher in seinen skeptisch-melancholischen Schwarz-Weiß-Fotografien einfing, dann muss auch für abstrahierende Fotografien ein ebensolcher Wirklichkeitsbezug konstatiert werden. Das gebietet allein schon die Logik, von tatsächlicher Bildgeschichte gar nicht zu reden, die – was nicht verwundern kann – auch existiert: Genannt seien nur Jaroslav Rössler, László Moholy-Nagy, Aaron Siskind oder Minor White als Beispiele.

Liesbrock reflektiert zwar die Vielschichtigkeit von Realität und sieht auch die »geistige Realität«, er verharrt aber im Theoretisch-Methodischen des Wahrnehmens, ohne zum Kern, zum Politisch-Ideologischen, zum real existierenden Faktischen vorzustoßen. Folglich erscheinen auch die ausgestellten Fotografien dekontextualisiert und entpolitisiert. Das ist das intellektuelle Hauptmanko des Projektes und wiegt mehr als die zu beklagende Einseitigkeit und die Auslassungen: Wo bleiben Künstlerfotografen wie Heinrich Zille (als frühester Fotograf der Moderne), Edward Steichen, Man Ray, Irving Penn und, und, und? Gab es in Ostdeutschland nach dem Krieg keinen einzigen nennenswerten Fotokünstler? Und haben wirklich nur so wenige Fotografinnen Kunstniveau erlangt?

Auslassungen über Auslassungen, die für sich schon den proklamierten Anspruch, die »künstlerischen Höhepunkte der Fotografie des 20. Jahrhunderts und ihre bedeutendsten Vertreter« zeigen zu wollen, als maßlose Übertreibung entlarven.

Thomas Weski, als Kurator für Fotografie und Medien am Sprengel-Museum tätig, hat seine fotokünstlerischen Präferenzen durch seine frühere Sammlungs- und Ausstellungspraxis während seiner Zeit beim Siemens-Kulturprogramm und durch seine Ausstellungen seit 1993 im Sprengel Museum deutlich exponiert: Lee Friedlander, Robert Adams, Judith Joy Ross, Nicholas Nixon und Michael Schmidt heißen seine Favoriten. Dagegen ließe sich nichts sagen, wäre da nicht das zweifelhafte Unterfangen, mit ihnen eine neue Foto- und Kunstgeschichte zu schreiben.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Fotografien eben dieser Bildautoren aus den Sammlungen des Siemens-Kulturprogramms, der Niedersächsischen Sparkassenstiftung und des Sprengel Museums zu den wichtigen Leihgaben gehören, mutet das ganze Unternehmen wie eine Veredelungsaktion an, bei der diese fotografischen Bestände durch die hinzugeliehenen früheren Fotografien von Atget, Strand, Evans, Sheeler etc. nobilitiert werden. Und weil’s offenbar so einfach funktioniert, gibt die Niedersächsische Sparkassenstiftung auch gleich noch ihre vasenartigen Skulpturen von Thomas Schütte mit zur Veredelung dazu – egal, ob sie den Besucher zu neuen oder anderen Lesarten der Fotografien animieren.

So gesehen – und auch angesichts der unverkennbaren Hofierung der Bechers und ihrer Schüler (bis in die jüngste Generation) – kommen mir Zweifel ob der Unabhängigkeit heutiger Museen und Kuratoren zum Nachteil einer wirklichkeitsrelevanten, »realistischen« Kunstgeschichte, in der auch die Fotografie den ihr gebührenden Platz einnimmt. Das ist das wahre Übel dieses Projektes! In der aktuellen Diskussion über das Verhältnis von privaten Sponsorengeldern in Relation zu öffentlichen Mitteln verdeutlichen diese »wunderschöne« Ausstellung und ihr Katalog die unverzichtbare Notwendigkeit unabhängiger Institutionen, wie sie – wenn überhaupt – nur öffentlich finanzierte Einrichtungen gewährleisten können. Oder »how do you look at it«?

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Enno Kaufhold
studierte Kunst und Fotografiegeschichte. Promotion, freie Tätigkeit als Fotograf, Fotohistoriker, Kurator, Lehrbeauftragter, Gutachter; seit 1990 in Berlin. Zahlreiche Publikationen, zuletzt zur Geschichte der Modefotografie, zu Heinrich Zille, der Fotokunst in den Ostseeanrainerstaaten und zur Interieurfotografie.