Magazin #24

Geschichten ohne Ende

Intifada in Palästina und Staatsterror in Tschetschenien, Bürgerkrieg in Sierra Leone, Erdbeben in Kaschmir – Jan Grarup fotografiert Kriege, Krisen und Katastrophen. Aber erst dann, wenn der Medien-Tross längst abgezogen ist. Langzeitreportagen über die Opfer. Protokolle zu Werk und Arbeitstechnik eines ungewöhnlichen Fotojournalisten.

Text – Kay Dohnke

Die Erdstöße haben nachgelassen, Armeen wurden durch Milizen ersetzt, Terror ist zur Gewohnheit geworden – kein Grund also für den Medien-Tross, noch länger vor Ort zu bleiben, zumal die täglich gezählten Toten unter den Nachrichtenwert gefallen sind. Die Öffentlichkeit zieht weiter ins nächste Krisengebiet.

Dann ist der Zeitpunkt für Jan Grarup gekommen: Wenn die Reporter, Korrespondenten, Filmteams abgezogen sind, fängt der dänische Fotojournalist erst richtig an. Ihn interessieren die großen Sensationsmeldungen nur wenig, er kennt sie zur Genüge aus den zahlreichen Katastrophen, Krisen und Kriegen, in denen er schon gearbeitet hat. Grarup sucht die Geschichten hinter den Schlagzeilen: »Wenn man den Dingen auf den Grund geht, zeigen sich andere Aspekte. Die sensationshungrigen Medien ziehen von einem sexy Konflikt zum nächsten. Schon nach kurzer Zeit sind sie alle fort, aber das verändert die Situation der Menschen kein bisschen.« Ihre Geschichte hat kein Ende.

Empathie. Ein wesentlicher Impuls für Grarups Tun. Ihm geht es um die Betroffenen, um Individuen, die in den Nachrichten sonst nur anonyme Masse sind: »Am meisten interessiert mich, wie sie leben – vor allem die Kinder. Ich versuche stets, mit den Opfern in den Krisengebieten zu arbeiten, und vermeide es, mit einer der kämpfenden Fraktionen zu arbeiten.«

Kann man mit Fotografieren etwas erreichen? »Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es etwas bewirkt. Ich mag es, mich persönlich einzumischen – als Fotografen können wir Dinge beeinflussen. Bilder werden immer von Menschen angeschaut, sie geben die Möglichkeit, Position zu beziehen. Stills können das noch viel besser als die schnellen Nachrichten. Fotojournalismus hat ein enormes Gewicht und sehr viel Zukunft, denn die Menschen wollen mehr Information. Die Fotografen kehren zurück, während die Fast-forward-Medien nur eine Formel kennen: 2 Minuten 30 Sekunden – nächste Geschichte.«

So ist der entscheidende Faktor in Jan Grarups Arbeit: Zeit. »Es ist für meine Geschichten unabdingbar, dass ich lange bleibe. Ich trickse die Menschen aus, warte, bis der Typ mit seinen Kameras für sie langweilig wird und sie sich wieder ihrem Alltag zuwenden – dann fange ich an zu arbeiten. Zeit ist die Essenz, nur mit Zeit kommt man den Menschen nahe, und erst dann fangen sie an, von ihrem Leben zu erzählen und dich daran teilhaben zu lassen. Oft fahre ich viele Male in eine Region – für eine einzige Geschichte. Die Wahrheit ist nicht immer leicht zu finden; Zeit zu investieren ist die Grundlage meiner Arbeit.« Für seine Reportage über die Jungen von Ramallah reiste er sechsmal nach Palästina.

Technik. Grarup arbeitet wann immer möglich auf Film. Natürlich hat er auch digitales Equipment, um seiner Redaktion schnell aktuelles Material schicken zu können. Aber am liebsten benutzt er seine vertraute Leica: »Wenn man digital fotografiert, sieht man sofort ein Bild auf dem Monitor, es ist okay, und man geht woanders hin. Doch wenn ich auf Film arbeite, bin ich unsicher, gehe wieder und wieder in eine Szene oder ein Motiv hinein, und daher habe ich dann sehr viele Bilder, unter denen ich wählen kann. So wird eine Geschichte besser.« In Kaschmir entstanden während der aktuellen Nachrichtenarbeit 105 Filme quasi nebenbei, der eigentliche Fundus für die großen Reportagen. »In Ramallah habe ich 600 Filme verbraucht, in Hebron auch – ich bin ein großer Sponsor der Filmhersteller.«

Privilegien. Sie zu haben, gibt Jan Grarup Möglichkeiten, die viele andere Fotojournalisten nicht bekommen: »Meine Redaktion in Kopenhagen, Politiken, gibt mir die Freiheit, lange zu reisen – sie hat dafür das Recht, die Geschichten zuerst zu bringen, dann verkaufe ich sie weiter. Die Kaschmir-Reportage wurde in 22 Ländern gedruckt. Wenn man eine Geschichte wirklich gut macht, ist sie auch zu verkaufen. Der Trick ist, sie zuerst bei einem großen Kunden unterzubringen – dann folgen alle anderen automatisch, wie Dominosteine.«

Gefühle. »Wenn ich arbeite, nutze ich meine Angst – das selbe Gefühl, das auch die Menschen verspüren, die ich fotografiere. Ich habe drei Kinder, und wenn sie die Bilder sehen, fragen sie, ob die Arbeit nicht gefährlich ist. Manchmal muss ich dann lügen…«

Grarup ist 100 bis 150 Tage im Jahr unterwegs. »Meine Themen berühren mich nicht mehr, wenn ich sie ständig fotografiere, ich muss zwischendurch heimfahren, zurück in mein zivilisiertes Leben. Und nichts ist besser, als wenn man nach drei Wochen aus der Wüste von Darfur zurückkommt und es als erstes heißt: Kannst du deinen Sohn zum Fußballtraining bringen? Was meinen Arsch rettet, ist die Tatsache, dass ich Kinder habe, die einen Vater wollen und kein seelisches Wrack. Daher lebe ich in zwei Welten: Ich habe mein Privatleben zu Hause, und ich habe mein professionelles Leben im Job. Da kann ich immer gehen, ich suche es mir aus, wann ich heimfahre – die Menschen aber, die ich fotografiere, müssen bleiben.«

Jan Grarup
Geboren 1968 in Kvistgaard, Dänemark. Fotografierte schon als 15-jähriger Schüler für das Helsingør Dagblad. Nach dem Studium des Fotojournalismus arbeitete er ab 1991 für Ekstra Bladet in Kopenhagen. 1993 Tätigkeit als Freelancer in Berlin. Seit 1994 fotografiert er für die Tageszeitung Politiken in Kopenhagen. Seit 2000 Mitglied von Rapho in Paris. – Auf Einladung von FREELENS präsentierte Jan Grarup beim Jahrestreffen 2006 in Berlin sein Buch Shadowland.
Auszeichnungen & Preise u.a.:

World Press Photo Award 2000 »Kosovo-Albaner« (1. Preis Menschen in den Schlagzeilen/Fotoserien), 2002 »Die Jungen von Ramallah« (1. Preis Menschen in den Schlagzeilen/Fotoserien), 2003 »Liberianische Flüchtlinge in Sierra Leone« (2. Preis Menschen in den Schlagzeilen/Einzelfotos), 2004 »Erdbeben in Bam« (2. Preis Menschen in den Schlagzeilen/Fotoserien), 2005 »Roma in der Slovakischen Republik« (1. Preis Alltagsleben/Fotoserien), 2006 »Nach dem Erdbeben in Kaschmir« (2. Preis Menschen in den Schlagzeilen/Fotoserien).
www.jangrarup.photoshelter.com

Jan Grarup
Shadowland

Mit einem Vorwort des Dalai Lama.
Kopenhagen: Politikens Forlag 2006.
228 S., 114 Schwarzweißfotos, 23x25cm, 50 Euro. – ISBN 87-567-7763-9