Magazin #31

Gibt es ein Leben ohne Netz?

Nur wer ständig online ist, hat Hoffnung auf ein erfolgreiches Leben. Der Rest schaut in die Röhre. Unser Reporter berichtet über Gewinner und Verlierer

Text – Michalis Pantelouris
Fotos – Hannes Jung & Felix Schmitt

Er versteckt sich nicht. Aber er senkt den Kopf, als er durch die hell erleuchtete Tankstelle geht, vorbei an den Zapfsäulen, vorbei am Supermarkt, in den Schatten. Vor der Hintertür zu dem Büro stehen Menschen, in loser Reihe. Einige warten schon seit Stunden, besetzen die Plätze nah an der Tür, und Jörg Stieber begrüßt jeden einzelnen mit einem Handschlag, einem Satz, einem Nicken. Merkwürdig förmlich. Aber schließlich könnte man sagen, all diese Menschen sind hier, weil sie bestimmte Formen nicht beherrschen.

Wenn sie ein Gefühl dafür hätten, was andere merkwürdig finden, dann müssten sie vielleicht nicht nachts anstehen, um im Hinterzimmer einer Tankstelle an einem halblegalen Anschluss ihre Netzgeschäfte zu erledigen. Dann hätten sie einen Anschluss mit einer halbwegs brauchbaren Leitungs-Priorität zu Hause. »Die meisten hier suchen Wohnungen oder Jobs«, hatte Stieber auf der Herfahrt in seinem alten VW mit Verbrennungsmotor gesagt, »aber wenn sie von ihren eigenen Anschlüssen Bewerbungen schicken, dann haut Networth sie sofort aus der Schlange. Wenn ihre Mail nach vier Tagen endlich mal ankommt. Es ist wirklich die Wurzel von allem«, sagt er, und es klingt, als wollte er ausspucken, »Networth hat eine ganze Generation kaputtgemacht. Das halbe Land, wenn man es genau nimmt. Eine einzige beschissene App.«

Volle Konzentration auf den Bildschirm. Dort entscheidet sich, welche Richtung die Karriere nimmt. Stetig auf- und abwärts oder steil bergab. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt
Volle Konzentration auf den Bildschirm. Dort entscheidet sich, welche Richtung die Karriere nimmt. Stetig auf- und abwärts oder steil bergab. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt

Er sagt nicht, dass die Bewerbungen wahrscheinlich auch keine Chance hätten, wenn sie doch irgendwann von einem Menschen gelesen werden würden. Wer will schon einen Mieter oder einen Mitarbeiter, zu dem es zwölf Knoten tief keine Verbindung im eigenen Netzwerk gibt? Stieber atmet tief ein, als er auf den Hof der Tankstelle abbiegt, jene Insel der Vergangenheit, auf die nur noch diejenigen kommen, die den Schnitt nicht geschafft haben. Und, an die Hintertür, diejenigen, die eine Zukunft suchen müssen, ganz einfach deshalb, weil ihre Gegenwart nicht funktioniert.

Jörg Stieber, 43, ist Sozialarbeiter. Er soll vor allem Jugendlichen helfen, deren Netzwerke keinen Wert haben, wenn sie einen Job oder auch nur eine Unterkunft suchen. Aber tatsächlich ist er eine Art Schnittstelle für alle, die durch die Daten-Prioritäten und die Netztrennung so weit nach unten durchgereicht wurden, dass sie eigentlich nicht mehr existieren können.

»Als ich von der Uni kam«, sagt Stieber und lacht dabei bitter, »ging es beim Stichwort Medienkompetenz vor allem darum, Jugendlichen beizubringen, nicht zu viel von sich im Netz zu veröffentlichen. Das ist erst zehn Jahre her. Aber versuchen sie heute als 18-jähriger mal, ein Mädchen kennenzulernen, wenn ihr Gesichtsscan keine Resultate ausspuckt. Die macht ein Foto von ihnen mit dem Handy, guckt eine Sekunde drauf, steht auf – und geht.« Es klingt übertrieben, aber später wird er tatsächlich ein Scan von einer jungen Frau in der Schlange machen, die zum ersten Mal in der Prio-Box ist – ohne Ergebnis. Keine Einträge. Nicht einmal ein Profil in irgendeinem dieser alten, frei zugänglichen Netzwerke. »Null«, sagt er, und lacht bitter, »Es liegt nicht daran, dass sie nichts posten. Sie geben sich Mühe. Aber im Algorithmus sind sie einfach nichts wert.«

Das Wort steht wieder unausgesprochen im Raum. Networth. Jenes Programm, das sekundenschnell den Wert jedes Netzwerkes ermittelt. Seitdem praktisch alle Geschäfte, Produzenten, Betreiber, seitdem wir alle es benutzen, um Unerwünschtes herauszufiltern, sind die Menschen ohne wertvolles Netzwerk praktisch unsichtbar. Und unberührbar. »Wir könnten es ganz einfach lösen, wenn ein großer Teil der Netzwerk-Bonzen nur zehn oder zwanzig Charity-Friendships eingehen würden – das würde all die Junk-Nets aufwerten und plötzlich wäre Networth ausgehebelt«, sagt Stieber, »aber das machen die ja nicht. Der letzte, der es noch gemacht hat, war der Lobo. Und wir wissen ja, wie das geendet ist.« [Sascha Lobo war ein bedeutender Aktivist zu Zeiten des Web. Er lebt heute angeblich in einer Hütte im Allgäu mit Prio-6-Anschluss und sammelt antike Druckerpressen; Anm. d. Red.]

Einer nach dem anderen kommen sie in das Büro der Tankstelle, das mit einem Tisch, zwei Stühlen und dem längst abgelaufenen Kalender aus der Zeit, als Ölfirmen noch Geld für Propaganda hatten. Stieber hat die Steppjacke ausgezogen und die Mütze abgenommen. Es ist so eng hier drinnen, dass es warm wird, auch ohne Heizung.

Als erster kommt ein früh gealterter Mann, Mitte 20, schlaksig. Ein offenes Gesicht hätte man gesagt, als man Gesichter noch mit dem Wunsch angesehen hat, selbst Informationen daraus zu lesen. Er ist auf der Suche nach einem Job durch die erste Runde gekommen und hofft jetzt, dass Stieber ihn für die Endrunde optimieren kann. Er legt seinen Zeigefinger auf das Pad auf dem Tisch, und tatsächlich bewertet ihn Networth wenigstens niedrig sechsstellig, was hier im Hinterzimmer einer der höchsten Werte des Abends bleiben wird.

Der Frühvergreiste wird den Job trotz seiner Bemühungen im Freundeskreis seiner Prio-2-Geliebten nicht kriegen, egal, wie er sich bemüht. Stieber legt ihm die Hand auf die Schulter, als er sagt: »Die laden dich ein, um zu beweisen, dass sie Gesetze beachten und nicht diskriminieren. Aber guck dir den Job an: Da steht ein Jahresverdienst dahinter, der deinem Networth entspricht – und der Networth rechnet sich hoch auf zwanzig oder dreißig Jahre. Ich müsste dich mindestens auf vier oder fünf Millionen hochdrücken, und wie soll das gehen?« Er lässt den Jungen ein paar Bestellungen machen, bevor er den Nächsten Klienten hereinbittet, damit der Abend wenigstens nicht ganz umsonst war. Einmal die Leitung nutzen, wenn sie schon offen ist.

Er bedankt sich höflich, als er hinausgeht. Stieber klopft ihm zum Abschied auf den Rücken. »Der ist nicht dumm«, sagt Stieber, als der Junge gegangen ist, »das sind genau die, die wir vergessen haben, als wir bei aller Wirtschaft den Zwischenhändler ausgeschaltet haben. Wir haben einfach nicht daran gedacht, dass die meisten von uns Zwischenhändler sind, seitdem die Produktion in der Dritten Welt gemacht wird.«

Jörg Stieber erreicht die Tankstelle, in dessen Hinterzimmer er die Verlierer zurück ins Netz bringen will. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt
Jörg Stieber erreicht die Tankstelle, in dessen Hinterzimmer er die Verlierer zurück ins Netz bringen will. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt

Die Autos, die knapp sieben Kilometer entfernt auf dem Parkplatz der Roland-Berger-Gesamtschule stehen, haben noch nie an einer Tankstelle gehalten. Hier hat jede Parkbucht einen eigenen Gleichstrom-Stecker für die Akkus, und wenn ein Schüler vergessen sollte, seinen Wagen nach dem Parken anzuschließen, dann erledigt es einer der Sicherheitsmänner bei seinem Rundgang. Nicht, dass einem der Schüler auf dem Heimweg in einem der schlechteren Viertel der Stadt der Strom ausgeht. Batterien sind in Wahrheit eine 150 Jahre alte Technologie, für die noch niemand einen echten Ersatz gefunden hat. Aber wenn jemand es schafft, einen Ersatz dafür zu entwickeln, dann sicher ein Schüler der RBGS – sagt ihr Direktor, und so ganz falsch liegt er damit wahrscheinlich nicht. Hierher kommen die Besten der Besten. Kostenlos. Weil hierher eben auch die Kinder derjenigen kommen, die sich die beste Schule des Bundeslandes leisten können. Aber letztlich zahlen 95 Prozent der Schüler Schulgeld, die restlichen kommen mit Stipendien. Die Roland-Berger-Gesamtschule ist die begehrteste Schule des Landes.

Joshua Wentorff trägt den offiziellen Blazer des Lehrerkollegiums, aber nicht die Krawatte. Schon auf den ersten Blick erkennt jeder, der sich noch ein bisschen daran erinnert, wie es war, 16 Jahre alt zu sein, warum Wentorff in den Online-Ranglisten der Lehrer bundesweit seit Jahren einen der ersten Ränge belegt. Ein jugendlich gebliebener Lehrer, mit selbstbewusst federndem Gang und einem Lächeln voller leuchtender Zähne. Und sein Ranking in den anonymen Bewertungen beweist auch, dass er etwas versteht von dem, was er unterrichtet, und das noch mit dem Kürzel für den altmodischen Namen im Stundenplan steht: MK – für Medienkompetenz. Aber niemand nennt es mehr so. Wentorff selbst nennt es »Imageunterricht.« Die Schüler der RBGS sagen einfach »Netty« – kurz für »Netability«, die Netz- und Netzwerkfähigkeiten.

»Denk das ganze nochmal«, sagt Wentorff zu einem Schüler, der eine nicht ganz falsche Antwort gegeben hat, »aber denke es viral. Was willst du erreichen, wenn du im Netzwerk in Erscheinung trittst?« Der Junge denkt nach und bewegt sein Gesicht dabei, als würden Zahnräder in seinem Kopf rotieren. Vier, fünf andere melden sich, alles Mädchen. Wentorff nimmt eins von ihnen dran. »Ja, Emma?« »Celebrability?«, schlägt sie als Antwort vor und erntet ein Nicken des Lehrers. Die anderen hochgereckten Hände sinken auf die Tische. »Ganz genau«, sagt Wentorff, »aber was heißt das hier?« Das Mädchen weiß die Antwort. »Wenn ich öffentlich in Erscheinung trete, dann sollte mein Handeln meiner Person einen Mehrwert hinzufügen, der in meinem direkten Netzwerk erkennbar wird.« Wentorff ist mit der Antwort im Prinzip zufrieden, aber sie wirkt ihm noch zu auswendig gelernt. »Was bedeutet das in diesem Fall konkret?«, fragt er nach. Die Antwort kommt ohne Zögern. »Er könnte mit seinem Lied zum Beispiel einen Werbespot neu vertonen und den hochladen, damit die Firma ihn entdeckt.« Wentorff schüttelt seinen Zeigefinger, als wollte er auf einen Punkt zeigen, könnte ihn aber noch nicht genau sehen. »Fast da«, sagt er, »fast da! Und jetzt viral denken. Viral!« In diesem Moment geht ein Grinsen über das Gesicht des Jungen, in dessen Kopf bis zu diesem Moment noch eine Maschine gearbeitet hat. »Ich könnte«, ruft er aufgeregt, ohne sich gemeldet zu haben, »ich könnte den Spot mit einem Porno mischen!« Wentorff zeigt auf ihn. Seine Geste sagt »Du hast es!« Aber er fragt noch einmal: »Und wenn sie dich verklagen?« Der Junge grinst. »Ich nehme den Anwalt der Konkurrenzfirma und bin für immer in ihrem direkten Netzwerk. Direkte Verbindung, Talent, Rücksichtslosigkeit, kreative Lösungen. Mein Name steht an ihrer Wand.« Wentorff grinst. »Das ist natürlich ein hypothetisches Beispiel«, sagt er dann, während er viel sagend die Augenbrauen hochzieht. »Aber es ist ziemlich gut. So werden Stars geboren. Und das müsst ihr euch merken: Firmen wollen euch als Stars, nicht als Sklaven. Das ist Celebrability – euer Potenzial.«

An der Roland-Berger-Gesamtschule lernen die Besten der Besten. Wer eine harte Auswahl durchlaufen hat, muss nur noch das nötige Kleingeld mitbringen. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt
An der Roland-Berger-Gesamtschule lernen die Besten der Besten. Wer eine harte Auswahl durchlaufen hat, muss nur noch das nötige Kleingeld mitbringen. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt

Das Mädchen ohne Eintrag ist die nächste in Stiebers provisorischem Büro in der Tankstelle. Sie sieht zerbrechlich aus wie ein Reh, mit großen, dunklen Augen und selbst für diesen ewigen Winter zu weiß. »Gehst du noch zur Schule?«, fragt Stieber, nachdem er ihren Fingerscan genommen hat, und sie nickt vorsichtig. Dann überlegt sie. Und schüttelt schließlich den Kopf. »Was ist los?«, fragt Stieber, aber sie sagt nur: «Nicht mehr. Hab aufgehört.« Es ist offensichtlich, dass sie glücklicher wäre, wenn sie keine Fragen beantworten müsste. Stieber sieht sie ein paar Sekunden lang unschlüssig an, dann lächelt er. »Okay«, sagt er, »geht mich nichts an. Was kann ich tun?« Sie sitzen sich gegenüber im Halbdunkel, und für schmerzhaft lange Sekunden sieht man nur am Dampf ihres Atems in der kalten Luft, dass das Mädchen überhaupt noch lebt. Sie zieht die Schultern hoch. »Ich weiß nicht, sagt sie, und dann, nach einer Pause, so leise, dass man es kaum hören kann, »alles?«

Es ist die Geschichte der verlorenen Generation: Den Eltern geht es noch gut. Reihenhäuschen in der Vorstadt, Vater Ingenieur, Mutter Lehrerin, noch zwei Schwestern, behütete Idylle. Und dann, auf einmal, kauft kein Mensch mehr die Autos, an denen Papa baut, weil seine Firma sich nur ein bisschen zu lange an das Benzin geklammert hat – und Akkus kommen nunmal aus Indien, in den Autos, die sie antreiben. Die Inflation frisst so viel vom Gehalt der Mutter, dass man plötzlich jeden Cent umdrehen muss. Für das teure Netz ist kein Geld da. Die Kinder sind nur im offenen Web, dem bisschen, das übrig geblieben ist, nachdem die Netzbetreiber Prioritäten einführten.

Die entscheidenden Jahre, wenn sich Kinder online ihre Existenz aufbauen, sind sie höchstens mal bei Verwandten in einem der höheren Netze – ohne die Codes und Zauberwörter zu kennen, mit denen sich die anderen Kinder unterhalten. Die Kinder, die heute als Erwachsene Marketing machen oder einen der anderen Jobs, den nicht entweder ein Chinese in China oder ein Gastarbeiter hier billiger machen kann. Die verlorene Generation ist eigentlich nur ein Teil einer Generation: Diejenigen, die nicht dabei waren, als die Netzwerke aufgebaut wurden.

Wer das Beratungszimmer von Jörg Stieber betritt, ist online schon fast tot. Der Sozialarbeiter versucht, ihnen ein Stück ihrer Existenz im Netz zurück zu erobern. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt
Wer das Beratungszimmer von Jörg Stieber betritt, ist online schon fast tot. Der Sozialarbeiter versucht, ihnen ein Stück ihrer Existenz im Netz zurück zu erobern. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt

Es ist eigentlich keine neue Entwicklung. Schon immer hatten bestimmte Kreise Codes und ein eigenes Verhalten, an dem sie sich erkannten. Was Jahrzehnte lang viele Generationen von Migrantenkindern aus den Machtzirkeln des Landes herausgehalten hat, war weniger eine echte Ablehnung, sondern viel subtiler die Tatsache, dass die Kinder nie gelernt hatten, wie man sich in bestimmten Kreisen bewegt. Sie fielen nicht durch, weil sie Ausländer waren, sondern weil sie anders waren. »Das Netz hat das nur auf die Spitze getrieben«, meint Stieber, »und Networth hat es unmöglich gemacht, sich durch die sozialen Barrieren zu bluffen – jedenfalls fast.« Für die letzte Hoffnung ist er da. Der Sozialarbeiter, der den Jugendlichen und jungen Erwachsenen Wege zeigen soll, das System zu schlagen.

»Okay«, sagt er und reibt seine kalten Hände, »hast du irgendwas für mich? Fotos?« Man sieht ihr an, dass sie sich überwinden muss, als sie in die Tasche greift und eine Speicherkarte herausholt. Stieber hält sie gegen den Port des Pads. Schnappschüsse aus glücklichen Zeiten. Sie hat ein schönes Lachen. Wann auch immer sie es zum letzten Mal benutzt hat. »Damit können wir etwas anfangen. Was noch?« Sie zögert. Und schüttelt den Kopf. Stieber sieht ihr an, dass sie etwas verschweigt. Er blickt auf den Bildschirm auf dem Tisch. »Da sind Texte auf dem Stick.« Sie schüttelt nur noch einmal stumm den Kopf. Er seufzt. »Okay.« Sie posten ein paar Bilder in Communities zu jedem denkbaren Thema, von Reisetipps bis zu Modelcastings. Den Medienfirmen mit ihrer verzweifelten Suche nach Aufmerksamkeit reicht der Prio-3-Anschluss der Tankstelle als Absicherung gegen Junk-Posts. Und Stieber bewertet die Bilder selbst als erstes, um weitere Kommentare zu provozieren. Jede Art Aufmerksamkeit bringt Referenzen. Und jede Referenz lässt sich pushen, besonders, wenn es um junge Mädchen geht. Vielleicht würde ein dummer Sohn eines reichen Marketingchefs mit einer hohen Leitungspriorität eins der Bilder entdecken und irgendwo in seinem Stream verbreiten. Das wäre ein Einstieg. Aber es ist jedes Mal wieder ein Fischen im Trüben. Ganz besonders, wenn das Mädchen auf dem Foto nicht nackt ist. Aber ein Mädchen ohne Eintrag kann ein dummer Junge seinen Kumpels sehr einfach als Aufriss verkaufen. Kaum ein Geschäft läuft seit Jahrhunderten so sicher, wie eins, das Jungs beim Angeben hilft.

Virales Denken, gepaart mit unkonventionellem Handeln, das will Joshua Wentorff seinen Schülern beibringen. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt
Virales Denken, gepaart mit unkonventionellem Handeln, das will Joshua Wentorff seinen Schülern beibringen. Foto: Hannes Jung & Felix Schmitt

Stieber arbeitet rasend schnell. Postet und postet. So viele Haken wie möglich legen in den paar Minuten, die er für jeden seiner Fälle zur Verfügung hat. In der linken unteren Bildschirmecke zeigt eine Grafik die Aktivität auf seinen Posts. Sie ist nicht groß, aber es gibt sie. Er ist ein Profi bei der Arbeit. Nach fünf Minuten zeigt Networth für das Mädchen schon fünfzehntausend Euro an. Nach sieben Minuten sind es mehr als dreißigtausend. »Okay«, sagt er, »wir brauchen einen Anker. Wir brauchen etwas, dass uns den Wert erhält.« Er sieht das Mädchen an, und sie blickt stumm mit ihren großen brauen Augen zurück. »Was sind das für Texte auf dem Stick?«, fragt er schließlich. Networth steigt auf über vierzigtausend. Dann, nur Sekunden später, auf fünfzig. Sie blickt auf den Boden zwischen ihrem Stuhl und Stiebers. »Gedichte«, sagt sie dann. In der Roland-Berger-Gesamtschule sitzt Joshua Wentorff in der Lehrer-Lounge und spricht über die Implikationen seines Unterrichts. »Der ganz große Wechsel war vor vielleicht zehn Jahren, als wir endlich eingesehen haben, dass es nur noch in den wenigsten Fächern darum gehen kann, den Schülern Wissen zu vermitteln. Es geht nicht um Wissen. Es geht um Techniken. Kulturtechniken. Unsere Schüler lernen, mit dem, was sie können, wissen und haben, einen maximalen Impact zu erreichen.« Er denkt einen Augenblick nach, bevor er anfügt: »Nicht nur für sich selbst. Auch für die Gesellschaft.«

So steht es auch im Mission Statement: »Lerne anwenden« ist das Motto der Schule. »Früher wirkte es doch für viele Leute immer noch so, als wäre Verweigerung eine mögliche Haltung. Es gab Menschen, die waren nicht im Internet, weil sie nicht wollten. Es gab welche, die fanden Leitungsprioritäten nicht wichtig. Es gab welche, die wollten Kindern beibringen, möglichst wenig Spuren im Netz zu hinterlassen und möglichst viel offline zu sein. Ich weiß noch, wie es hieß: Echte Freunde hat man immer noch in der realen Welt, und solches Zeug. Das war so, als würde man sagen, ein Gedanke ist nicht real, weil er nicht in der physischen Welt zu sehen ist. Dabei ist es genau anders herum: Was die meisten Menschen denken, ist die Realität. Punkt. Und wenn wir Kinder davon ausschließen, was alle denken, vom vernetzten gemeinsamen Denken, dann spielen sie in der Realität keine Rolle mehr.«

Aber genau das passiert doch heute, oder? Wentorff sieht plötzlich sehr angestrengt aus, so als würde er mit dem Vorwurf, den die Frage impliziert, dauernd konfrontiert. »Meinen Schülern passiert das nicht«, sagt er dann, »und das ist der Teil der Welt, auf den ich Einfluss habe. Meine Schüler kommen klar.«

»Gedichte?« Stieber ist konsterniert. Gedichte. Keine Sex- und Partygeschichten. Keine Aufmerksamkeit. Verdammt. Er überlegt. »Scheiß drauf«, sagt er , »versuchen wir es.« Er klickt auf das Text-Icon und liest. Erst schnell, so wie er postet, aber dann hält er inne. Liest noch einmal, Wort für Wort. Ganz langsam. Er blickt das Mädchen an, als wollte er sagen: »Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Aber er sagt nichts. Kopiert nur den Text und stellt ihn online. Dann dreht er sich zu ihr, überlegt, räuspert sich: »Ich glaube, es könnte sich lohnen, wenn du draußen wartest und wir gucken nachher nochmal, ob sich etwas getan hat.« Sie nickt, ohne ihn anzusehen, nimmt den Stick und geht hinaus.

»Ich habe keine Ahnung, ob das klappt«, sagt er, als sie die Tür hinter sich zugemacht hat. »Aber eins weiß ich sicher: Das Zeug ist wahnsinnig gut. Wenn das nichts bringt, dann bringt überhaupt nichts mehr etwas. Wenn das nichts bringt, dann höre ich auf.«

Von draußen kommt ein Junge herein, der eine neue Schule sucht. Stieber streckt sich, als wollte er die Gedanken aus seinen Muskeln schütteln. »Dann wollen wir mal«, sagt er, »wollen wir mal gucken, was geht.«

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Michalis Pantelouris

nach seiner Zeit als Chefredakteur bei IVY bringt der ehemalige Textchef bei FHM, GQ und Max mit der Chesley Medienproduktion neue Magazine auf den Weg. Er bloggt unter http://www.print-würgt.de