Magazin #33

Ich fühle mich Dirk nah, wenn ich ein Bild raussuche

Was tun, wenn der Partner unerwartet stirbt und einen riesigen Bilderberg hinterlässt? Über das Engagement, ein künstlerisches Werk weiterzuführen. Ein Gespräch mit Karin Reinartz.

Interview – Peter Lindhorst
Fotos – Thies Rätzke

Die lautstarke Forderung nach einer »Flexibilisierung« der Schutzfristen oder gar völligen Abschaffung steht weiter im Raum. Eine Schutzfrist von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers wird von verschiedenen politischen Akteuren, allen voran von den Piraten und Teilen der Grünen, als inakzeptabel angesehen. Diese argumentieren, dass so immer mehr verwaiste Werke entstehen können, bei denen Unklarheit besteht, wo man Nutzungsrechte einholen muss. Die Aufhebung des Urheberrechts mit dem Tod eines Künstlers wird damit begründet, dass eine lange Schutzfrist wissenschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Fortschritt verhindere und, wie etwa Volker Beck (Bündnis 90 / Die Grünen) sagt, einen Prellbock für Kreativität in vielen Bereichen bilde.

Das Werk von Dirk Reinartz ist nicht verwaist und kann klar zugeordnet werden, denn seine Frau Karin besitzt die Nutzungsrechte und kümmert sich seit dem Tod ihres Mannes um dessen fotografische Hinterlassenschaften. Es ist ein dunkelgrauer Tag, als wir uns in Buxtehude treffen. Vor über zwei Jahrzehnten ist das Ehepaar hier hergezogen. Bei einer Tasse Tee erinnert sich Karin Reinartz daran, wie sie beide zunächst nicht aus Hamburg wegwollten, sich dann aber doch für ein geräumiges Haus in der Kleinstadt entschieden haben. Für ihren Mann bedeutete diese Entscheidung eine sinnvolle Trennung zwischen Arbeit und Privatem. Neben ihren Pflichten als vierfache Mutter hat Karin ihren Ehemann immer beruflich unterstützt. Als der 2004 verstarb, kümmerte sie sich um das umfangreiche Werk.

Bereitwillig führt sie uns durch das Einfamilienhaus. In einigen Räumen hängen Bilder aus dem Oeuvre ihres Mannes. Daneben gibt es Druckgrafiken, die von Richard Serra stammen, mit dem Dirk Reinartz eine tiefe Freundschaft über die gemeinsame Arbeit hinaus verband. Karin Reinartz erlaubt uns einen Blick in die eindrucksvolle Bibliothek des Fotografen und in das wohlgeordnete Archiv unter dem Dach. Es ist deutlich erkennbar, dass hier jemand rührig das Werk eines verstorbenen Künstlers pflegt und sein Andenken aufrecht erhält.

Peter Lindhorst: Frau Reinartz, wie groß ist 2013 das Interesse an dem Werk Ihres Mannes?

Karin Reinartz: Mit Ausstellungsanfragen läuft es eigentlich sehr gut. Aktuell besteht eine Anfrage über die Bochumer Galerie M, die Kontakt zu dem Bundestag in Berlin hergestellt hat. Es soll eine Ausstellung in den Räumen des Bundestags gezeigt werden. Die ist für 2015 als große Retrospektive angedacht, was sicher eine tolle Sache wird.

Dann gab es vor nicht allzu langer Zeit eine Ausstellung bei Robert Morat in Hamburg, in der die Serie über den Stadtteil Hamburg-St. Georg ausgestellt wurde. Robert Morat möchte 2014 weitere Arbeiten zeigen. Er hat die Idee, in seinem Berliner Showroom die Farbserie »Innere Angelegenheiten« zu präsentieren, und in Hamburg gleichzeitig »Bismarck« und »Bismarck in Amerika« zu zeigen, also eine Schwarzweiß- und eine Farbserie von Dirk.

Sind Sie aktiv geworden und haben die Galerie angesprochen oder lief das umgekehrt?

Zu Robert Morat bin ich hingegangen mit einem Stapel von Hamburg-St. Georg-Bildern unterm Arm. Ich dachte vor allem deswegen an ihn, weil sich seine Galerie in der Nähe des Schauplatzes befindet. Er fand die Bilder gleich sehr gut. Das war auch der Zeitpunkt, als klar war, dass das gleichnamige Buch beim Steidl Verlag fertig wird. Robert Morat hat also die Ausstellung organisiert und während der Dauer erstaunlich viele Bücher verkaufen können. Die Ausstellung wurde ein richtiger Erfolg, nicht nur die Eröffnung, die proppenvoll war. Der Galerist meinte, dass immer wieder Leute aus Hamburg-St. Georg gekommen seien. Die haben vor den Bildern gestanden und sich an Menschen und Orte des alten St. Georg erinnert. Der Galerist ist jemand, der das Werk gemeinsam mit mir fortführt. Er war gerade neulich hier und wir sind durchs Archiv gegangen, um zu überlegen, was man gemeinsam machen könnte. Ich glaube, er war vor allem von den Farbbildern angetan.

Im Flur hängt ein Plakatentwurf für eine Ausstellung in Ihrer Stadt?

Ja, die Ausstellung findet hier ab 2. Juni 2013 im Kulturforum in Buxtehude mit Bildern statt, die Dirk 1976 in Buxtehude gemacht hat. Das war eine Auftragsarbeit für den Stern, bei der damals fünf oder sechs Fotos im Heft gedruckt wurden. Ich habe irgendwann eine Kiste mit zahlreichen Abzügen im Archiv gefunden. Es sind sehr schöne Arbeiten dabei.

Das Archiv, für das Sie jetzt verantwortlich zeichnen, befindet sich hier. Aber hatten Sie schon davor jemals Berührungspunkte mit der Fotografie?

Durch Dirk natürlich! Als wir hierher zogen, hat sich mein Mann selbständig gemacht. Ich besaß eine kaufmännische Ausbildung, wodurch ich ihn unterstützen konnte. Daher habe ich den ganzen Schriftverkehr und die Buchhaltung übernommen. Ein Interesse an Fotografie habe ich durch den Bruder meiner Mutter entwickelt, der mir als Kind eine Kamera schenkte und selbst sehr viel fotografiert hat. Aber Dirk war jemand, der dieses im Gespräch mit mir weiter entfacht hat. Er hat mich immer wieder inhaltlich in seine Arbeit eingebunden. Ich war so etwas wie seine letzte Instanz, wenn er unsicher war. Er hat mir sehr vertraut, das war für mich ein überaus schönes Gefühl. Oft kam er aus seiner Dunkelkammer im Keller hervorgestürzt und fragte dann: Soll ich dies oder das nehmen? Es war ihm sehr wichtig, dass ich als jemand, der nicht dabei war, auf das Bild unverstellt reagierte. Auch beim Büchermachen war ich eingebunden.

Als Ihr Mann so plötzlich verstarb, wie haben Sie sich in Ihrem großen Schmerz über den Verlust überhaupt organisatorischen Dingen widmen können?

Das konnte ich erst gar nicht. Ein halbes Jahr habe ich gebraucht, um überhaupt das Archiv und seinen Arbeitsplatz zu betreten, den er sich unter dem Dach eingerichtet hatte. Es fiel mir so extrem schwer, denn dort war absolut sein Reich. Und so habe ich auch nicht genau gewusst, was dort noch aus der früheren Zeit archiviert war. Erst nach und nach habe ich mich orientieren können und mich über einen langen Zeitraum durch das Material gearbeitet, wo ich immer wieder Spannendes entdeckte.

Vor einiger Zeit fielen mir z. B. Dias aus den USA in die Hände, die ich überhaupt nicht kannte. Eine Serie, die 1976 entstanden ist. Dirk hatte damals den Auftrag vom Stern bekommen, nach Amerika zu fliegen und einen Mann, der hingerichtet werden sollte, zu porträtieren. Nachdem er diese schwierige Aufgabe erledigt hatte, kamen Anrufe vom Stern, der ihn mit immer neuen Aufträgen versorgte und so blieb er tatsächlich gleich für ein halbes Jahr. Er ist dort hin und her gereist, hat verschiedene Geschichten fotografiert und offensichtlich Zeit gefunden, eine eigene Farbserie zu machen von Straßenzügen, Hotelzimmern, allgemein von Orten, an denen er war. Dass das Material große Qualität hat, war mir gleich klar, als ich es entdeckte. Ich habe Abzüge machen lassen und einen Dummy zusammengestellt, der jetzt bei Steidl liegt. Ich denke, es sollte ein kleines, bescheidenes Buch werden.

Gab es jemals von Ihrer Seite aus die Überlegung, das gesamte Bildmaterial jemand anderem zu übergeben?

Das kam für mich überhaupt nie in Frage. Ich habe natürlich überlegt, wie es weitergehen kann nach Dirks plötzlichem Tod. Über einen langen Zeitraum habe ich einfach nur gesichtet, was alles vorhanden ist und habe dann versucht, eine Ordnung zu schaffen. Es war mir immer klar, dass ich das Archiv weiterführen werde und das Material nicht an eine Institution übergebe. Ich hätte einerseits gar nicht gewusst, wen ich genau fragen soll, andererseits bekundete auch niemand ein Interesse. Dann kamen allerdings Anfragen von Leuten, die gar nicht wussten, dass Dirk gestorben war und die irgendein Bild benötigten. Ich wurde z. B. von dem Kunstmagazin Art angefragt, das dringend ein bestimmtes Künstlerporträt von Dirk benötigte und mich bat, es zu schicken.

Die Galerie M aus Bochum, mit der Dirk schon früher zusammenarbeitete und die das Projekt »totenstill« mit mehreren Ausstellungen initiiert hatte, schrieb mich an, ob sie nicht etwas über Dirk machen könnten. Sie haben eine kleine Ausstellungsserie mit verschiedenen Themen organisiert. Das war unheimlich schön, dermaßen Zuspruch von außen zu kriegen. Es hat mich sehr getröstet, dass ein grundsätzliches Interesse an meinem Mann da war und dass man mir zutraute, die Anfragen dazu auszuführen. Zunächst stand ich vor den elementarsten Fragen: Wenn ein Bild gefunden war, wie verschicke ich es überhaupt? Allerdings hatte ich auch schon vieles zu Dirks Lebzeiten gelernt und bei Dingen, bei denen ich völlig unsicher war, fragte ich einfach Leute.

Aber Orientierung war erst einmal die vorrangige Aufgabe?

Die Aufarbeitung hat über viele Jahre gedauert. Zunächst war es wirklich nur ein einziges Suchen, wenn etwa eine Bildanfrage kam. Immerhin hatte ich auch noch einen Sohn, der zuhause wohnte und zu versorgen war und somit nicht unendlich Zeit, mich dem Archiv zu widmen. Ich habe halt Bildanfragen beantwortet und nach und nach eine eigene Ordnung geschaffen, auch wenn ich natürlich vieles so belassen habe. Dazu bin ich ganz pragmatisch vorgegangen: Ich habe vieles beschriftet, denn Dirk selbst hat immer genau gewusst, wo sich alles befindet und worum es sich handelt. Dabei habe ich immer wieder Neues gefunden, etwa die besagte Buxtehude-Stern-Serie. Heute bin ich an einem Punkt angelangt, wo alles gesichtet ist.

Wie umfangreich kann man sich das Archiv vorstellen?

Dazu habe ich mal eine Liste erstellt: Ca. 360 000 Schwarzweiß-Negative, 50 Ordner mit Schwarzweiß-Negativen aus der Stern-Zeit und 8 Ordner mit Farbnegativen. Hinzu kommen ca. 160 000 Dias. Und dann gibt es über 9 000 Silbergelatine-Abzüge in verschiedenen Formaten und ca. 500 Abzüge auf PE-Papier, plus diverse C-Prints.

Kommen eigentlich Anfragen von Leuten, die Prints kaufen wollen?

Das läuft natürlich über die Galerie. Manchmal kriege ich Anfragen von Leuten, aber das übergebe ich sofort der Galerie, die ihre Preise festgesetzt hat. Wenn dort etwas verkauft wird, teilen wir den Erlös.

Haben Sie konkret über Verwertungsmöglichkeiten nachgedacht, als Sie das Material sichteten?

Sehen Sie dieses Foto an der Wand? (Anmerkung: Es handelt sich um das Porträt eines New Yorker Geschäftsmannes, der an einer Wand lehnt.) Dirk stand oft davor und sagte, dieses sei sein bestes Bild. Das ist eine Aussage, die sich bei mir festgesetzt hat. Das Bild stammt aus einer Serie, die er in New York 1974 als freies Projekt gemacht hat. Ich bin also ins Archiv und habe geschaut, ob es mehr Bilder aus der Serie gibt und die schließlich in unterschiedlichen Kartons gefunden. Irgendwann habe ich mir einen Termin bei Gerhard Steidl geholt, ihm die Serie vorgelegt und gefragt, was er davon halte. Seine spontane Reaktion war: Machen Sie mal! Also habe ich einen Buchdummy erstellt. Früher habe ich immer schon Dirks Dummys begutachtet. Im Grunde wusste ich Bescheid, wie das geht. Oftmals habe ich ihm auch selbst Korrekturen vorgeschlagen, etwa über die Reihenfolge. Und auch da vertraute Dirk auf meine Meinung. Den New York-Entwurf habe ich dem Verleger vorgelegt und er war erstaunlicherweise mit allem einverstanden. Relativ schnell erfolgte die Produktion, was daran lag, dass Steidl die Bilder wirklich toll fand. 2007 ist das Buch erschienen. Das besagte Bild ist übrigens der Titel.

Da kam dann ja auch mal ein bisschen Geld in die Kasse?

Mit Büchern lässt sich nach meiner Erfahrung kein Geld verdienen! Ich muss ehrlich sagen, es steckt eher ein Idealismus von meiner Seite aus dahinter. Ich liebe es, eine bestimmte Serie als Buchdummy aufzubereiten. Die Arbeit an einem Entwurf ist immer eine große Freude. Geld fließt fast keines zurück, aber es generiert jedes Mal Aufmerksamkeit, wenn z.B. ein Buch erscheint. Rezensionen werden geschrieben und daraus entstehen wieder Anfragen. Bücher sind wichtig für die Ausstellungen. Wenn es ein neues Buch gibt, ist es manchmal so, dass ich eine Ausstellung dazu organisieren kann. Ab und zu ergeben sich im Zuge einer Veröffentlichung wiederum konkrete Anfragen nach Bildern. So kommt vielleicht ein wenig Geld zurück.

Es lässt sich demnach mit den hinterlassenen Bildern zu diesem Zeitpunkt nur mühselig Geld verdienen?

Manchmal erhielt ich Abrechnungen für die alten Bücher, aber jetzt nicht mehr. Wahrscheinlich werden die nicht mehr verkauft. Ein Titel wie »Kein schöner Land« ist ausverkauft. Das ist übrigens ein gesuchtes Buch, das hoch gehandelt wird. Ich habe nicht die Illusion, dass ich mit der Arbeit, die ich mache, in der Zukunft großes Geld verdiene. Es freut mich immer, wenn mal ein Bild verkauft wird und mein Leben wieder ein bisschen absichert. Letztendlich lebe ich von Dirks und meiner Rente, damit muss ich auskommen. Manchmal kriegt man ein Honorar für eine Ausstellung, aber auch das ist eher selten. Und ich kann zwar nach wie vor versuchen, viele Projekte zu initiieren, aber es muss auf der der anderen Seite auch Abnehmer dafür geben. Steidl will auch zukünftig mit mir Bücher machen, ich fahre demnächst mal wieder zum Verlag nach Göttingen. Neben dem Amerika-Buch ist auch ein zweiter Titel mit weiteren Künstlerporträts geplant. Das sollte mir dann zu gegebener Zeit ein Honorar einbringen.

Wenn ich Sie richtig verstehe, ist eher die Kuratorenschaft, also das Bestreben, das Werk zusammenzuhalten und zu verbreiten, Ihre Motivation?

Dem stimme ich zu. Ich möchte möglichst in Dirks Sinn den Nachlass aufarbeiten und pflegen. Ich glaube, bei vielen Sachen ziemlich genau zu wissen, was er dazu sagen würde. Es ist, als ob ich seine Stimme im Hinterkopf höre, wenn ich Dinge entscheide.

Wie würden Sie es empfinden, wenn Ihnen mit Abschaffung oder Verkürzung der Schutzfristen die Kontrolle über das Werk Ihres Mannes aus der Hand genommen würde?

Mag sein, dass die Pflege eines Werkes für andere Angehörige oftmals gar nicht möglich ist. In meinem Fall kann ich mir das nicht vorstellen, plötzlich mit Anderen die Nutzungsrechte zu teilen. Leute könnten das Bildmaterial kommerziell nutzen, um Kataloge daraus zu machen, Bilder ins Netz stellen und – mal übertrieben gesagt – Werbung für Zahnputzmittel damit bebildern. Es wäre eine unerträgliche Vorstellung, wenn die Bilder plötzlich in einem anderen Kontext genutzt würden. Das muss doch eine furchtbare Vision für Fotografen sein, darüber nachzudenken, ob und in welcher Weise das eigene Werk nach dem eigenen Ableben zerfleddert wird.

Nun hat ja nicht jeder ein eigenes, so umfangreiches künstlerisches Werk, wie Ihr Mann das hinterlassen hat.

Ja, völlig richtig. Auch bei Dirk gibt es übrigens eine A- und B-Sortierung. Aber selbst die B-Bilder würde ich niemals für Zahnpastawerbung freigeben. Letztere ist natürlich nur ein beliebiges Synonym für Fremdnutzung. Wenn jemand Dirks Arbeiten für etwas haben möchte, dann steht es ihm frei, sich zu melden. Fragen kostet nichts, und ich kann dann gegebenenfalls Ja oder Nein sagen. Aber was würde mit dem Material nach dem Tod eines Künstlers passieren, wenn die Nutzungsrechte frei sind. Heute bin ich für die Sichtung, Ordnung, Aufbereitung, Erfassung in Büchern usw. verantwortlich. Ein Haus lässt sich vererben, aber geistiges Eigentum nicht? Wenn das Urheberrecht mit dem Tod des Urhebers gelöscht wäre, hätte man damit auch jegliche inhaltliche Kontrolle und Verwendung des Materials verwirkt. Und mir wäre auch jeder ökonomische Vorteil, etwa durch den Verkauf eines Prints oder durch die Honorare, die man für das Büchermachen erhält, entzogen. Ich verstehe das nicht: Ein Gedicht, ein Lied, ein Foto, ein künstlerisches Werk soll nicht vererbbar sein, sondern der Allgemeinheit übergeben werden? Ich habe mit meinen Söhnen gesprochen, denen die Arbeit ihres Vaters wichtig ist und die gerne dieses Archiv gemeinsam weiterführen möchten. Sie haben mir immer gesagt: Gib das bitte um Gotteswillen nicht weg.

Wie weit würde man ein Werk beschädigen oder auseinanderreißen, wenn man z. B. die New York-Arbeit in kleinen Büchern herausbrächte oder Teile davon auf einer Website veröffentlichte etc.?

Ich bin mir sicher, dass es zu einer starken Deformierung des Werkes käme. Die Intention von Dirk können Unbeteiligte nur schwer erfassen und beurteilen. Ich übe eine selektive Funktion aus, von der ich glaube, sie wäre im Sinne meines Ehemannes gewesen. Ich will mich da nicht erheben, es gibt sicher Fachleute, die das können, aber es gibt bestimmt auch sehr negative Auswirkungen. Ich habe natürlich schon von Beispielen gehört, wo ein Angehöriger das Werk der Öffentlichkeit vorenthält, aber das ist in der Regel nicht das natürliche Interesse eines Angehörigen.

Ginge es etwa nach den Vorstellungen der Piraten, wären alle Bilder frei verfügbar. Theoretisch könnte man also die Bilder einscannen und honorarfrei (um-)nutzen…

Ich hatte so einen Fall: Das Bild »Zigeuner« von 1971, am Jungfernstieg aufgenommen, eine Arbeit, die auch für den Stern entstanden ist, habe ich zufällig im Internet entdeckt. Die war plötzlich vielfach auf verschiedenen Webseiten zu sehen. Der Hintergrund war, dass es im vergangenen Jahr eine Ausstellung und einen Katalog gab: »Für immer jung – 50 Jahre Deutscher Jugendfotopreis.« Dirk hatte 1971 mit dem Bild gewonnen, und dieses ist für Pressezwecke freigegeben worden, ohne mich jemals zu fragen. Somit war dieses Bild im Zusammenhang mit allen Besprechungen zu sehen. (Karin Reinartz zeigt uns eine CD, auf dem Cover ist eine beschnittene und bearbeitete Version genau dieses Fotos.)

Ein Bluesmusiker hat das Bild im Netz entdeckt und als Cover genutzt, da war ich schon sehr überrascht. Ich habe ihn angeschrieben, und er hat sich vielmals entschuldigt und sich damit gerechtfertigt, es nicht gewusst zu haben, dass Bildrechte existieren. Schließlich habe ich mich mit ihm persönlich und unbürokratisch darauf geeinigt, dass er mir eine CD schickt und einen kleinen Symbolbetrag zahlt. Ich habe das nicht über das Label gemacht, sondern es gut sein lassen, auch weil ich nicht genug Erfahrung hatte. Aber man hätte mich auch hier im Vorfeld einfach anschreiben können. Allerdings würde ich nie zustimmen, das Bild zu bearbeiten. Am meisten hat mich jedoch geärgert, dass die Herausgeber des Buches das Bild als Pressefoto freigegeben haben, ohne nachzufragen.

Können Sie sich trotz des Energieaufwands und der Ärgernisse, die manchmal entstehen, ein Leben ohne die Pflege des Nachlasses vorstellen?

Für mich geht es dabei auch immer um Erinnerungs- und Trauerarbeit. Das hat mir geholfen und ich weiß nicht, ob ich so hätte weitermachen können, wie ich das jetzt tue. Es wäre für mich nie in Frage gekommen, das Archiv abzugeben, weil etwa zu viele Erinnerungen darin stecken. Ganz im Gegenteil, gerade weil so viele Erinnerungen damit verbunden sind, war mir das sehr wichtig, Dirks Werk in seinem Sinn fortzuführen. Wir hatten schon damals ein symbiotisches Arbeitsverhältnis, es ging eigentlich kein Bild raus, ohne dass ich da irgendwie beteiligt war. Das ging immerhin 20 Jahre in unserer Partnerschaft so, dass wir richtig intensiv zusammen gearbeitet haben. Im Regelfall ist es ja nicht so, dass der Eine in die Arbeit des Anderen so involviert ist. Aber es hat sich ergeben, weil Dirk sich selbständig gemacht hat und ich meinen Beruf aufgegeben habe und zuhause war, um die komplette Buchhaltungs- und Schreibarbeit zu übernehmen und die Kinder aufzuziehen. Heute fühle ich mich Dirk manchmal ganz nahe, wenn ich ein Bild raussuche. Aber bitte, ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich nicht auch andere Interessen hätte! Heute Abend gehe ich zum afrikanischen Trommeln!

Hintergrund
KARIN REINARTZ

Karin Reinartz ist die Ehefrau des 2004 verstorbenen Fotografen Dirk Reinartz. Seit seinem Tod kümmert sie sich um das umfangreiche Archiv, das sich in ihrem Wohnhaus in Buxtehude befindet. Sie hat mehrere Ausstellungen organisiert und ist Herausgeberin zweier Monographien mit Bildern von Dirk Reinartz. Weitere Projekte sind in Planung.

Infos unter www.dirkreinartz.de

___
Peter Lindhorst

ist u.a. freier Autor, Kurator der FREELENS Galerie, Buchhändler im Haus der Photographie. Er betreibt den Fotobuchblog: www.photonews-blogbuch.de