Magazin #25

Lobby Dick

Keine Interessenvertretung hat es in Deutschland bislang geschafft die Möglichkeiten unserer Mediengesellschaft so gezielt zu nutzen, wie die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«. Ihre Werbestrategen machen Politik im Sinne der Arbeitgeber­verbände. Es geht um die Macht über die Köpfe. 

Text – Manfred Scharnberg
Foto – AP Photo/Fritz Reiss

»Wart! Da Prometheus eben am Werk ist, möchte ich gleich einen ganzen Menschen bestellen, nach meinem Bilde, wie es mir wünschenswert erscheint: fünfzig Fuß hoch, der Brustkasten nach dem Modell des Themsetunnels gebildet; (…) keine Andeutung von einem Herzen, eine Messingstirn und dahinter ungefähr ein Viertelmorgen guten Hirns; und sonst noch – soll er Augen haben, um nach außen zu sehen? Nein, aber gebt ihm ein Deckfenster oben auf dem Scheitel, um sein Inneres zu erleuchten. So trag’s ihm auf, geh!«

Herman Melville, Moby Dick

|Das Foto wurde zur Ikone. Es zeigt ein Plakat am Spreeufer. »Höchste Zeit für Reformen« steht darauf. Darunter das Wort »Deutschland«, halb im Wasser versunken. Von der Aufmachergeschichte im Spiegel bis zur Berliner Zeitung wird das Foto massenhaft veröffentlicht – als Symbol für einen angeblichen Reformstau. Der Initiator der Plakataktion, Dieter Rath, zieht Bilanz: »Es ist ein glücklicher Zufall gewesen. Ein Fotograf der Nachrichtenagentur AP hat ein Bild gemacht – und von da an nahm die Sache ihren Lauf.«

Einen guten Lauf hat die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM), dessen Geschäftsführer Dieter Rath ist, nicht nur mit dieser Aktion. Ihre Kommunikationskampagnen finden in den Medien große Resonanz. Dieter Rath war mehrere Jahrzehnte für die Öffentlichkeitsarbeit mächtiger Wirtschaftsverbände, wie dem Zentralverband der Elektrotechnik- und Elektroindustrie und dem Bundesverband der Deutschen Industrie verantwortlich.

Der Name der Initiative verspricht neue soziale Anstöße. Weit gefehlt. Die Initiative mit dem Label »Chancen für alle« ist ein gigantischer, von Arbeitgeberverbänden finanzierter, PR-Apparat, der propagiert, was er unter Reformen versteht: weniger Staat und mehr Markt. Soll heißen: »Die INSM bereitet das klimatische Fundament in der Öffentlichkeit, damit die Unternehmen anschließend ihre Interessen besser durchsetzen können«, so Dr. Rudolf Speth, von der FU Berlin, der für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung eine Studie zur INSM anfertigte. Sie selbst nennt es anders: Die INSM habe sich zur Aufgabe gemacht, »das Verständnis der Bürger für wirtschaftliche Zusammenhänge zu stärken«. Die Zeitschrift The International Economy feierte sie als »nationales Kampagnen-Hauptquartier der Neokonservativen«.

»Sozial ist, was Arbeit schafft«, ist ein Slogan, den Angela Merkel, Jürgen Rüttgers und andere CDU Politiker zu jeder passenden Gelegenheit wiederholen. Auch Guido Westerwelle (FDP), Edmund Stoiber (CSU) und Wolfgang Clement (SPD) haben das Motto in seltener Einigkeit verwendet. Der Slogan, den die CDU im vergangenen Wahlkampf aufgriff, stammt allerdings nicht von ihnen, sondern aus der Feder der INSM. Den Anfang mit der Umdeutung des Begriffs »sozial« machte Dagmar Schipanski, im Hauptberuf Thüringer Landtagspräsidentin, in einer Anzeigenserie der INSM: »Sozial ist, was Arbeit schafft.« Was ist damit gemeint? Hauptsache man hat Arbeit – ist das schon sozial? Mit diesem Argument ließe sich sogar Kinderarbeit rechtfertigen.

Was die Deutschen von Reformen halten, wollten die Arbeitgeber der Metallindustrie 1999 wissen. Das Ergebnis des Allensbacher Instituts für Demoskopie war für sie sicherlich ernüchternd: Zwei Drittel der Bevölkerung beurteilten den von Unternehmen geforderten Rückbau der Sozialsysteme »skeptisch« oder sogar als »bedrohlich«. Dass sich nur 10 Prozent der Deutschen vorstellen konnten, niedrigere Löhne würden Arbeitsplätze schaffen, löste bei den Arbeitgebern bestimmt keinen Jubel aus. Gesamtmetall reagierte, gründete eine Tochterfirma, die berolino.pr GmbH in Köln, die eine der führenden Werbeagenturen, Scholz & Friends, mit einer Konzeption beauftragte. Sie schuf ein höchst effektives Netzwerk aus PR-Agenturen, Verlagen, wissenschaftlichen Instituten und prominenten Befürwortern: Die INSM war geboren.

MATERIAL-HUNGER DER MEDIEN

Klaus Dittko, Geschäftsführer von Scholz & Friends, hatte einen Großauftrag. Seine Agentur übernimmt seitdem mit bis zu 60 Mitarbeitern den kreativen Part der Öffentlichkeitsarbeit. Er fasst die Aufgabenstellung zusammen: »Wie verändert man die Einstellung zu unserer Wirtschafts- und Sozialordnung?«

Die Strategie zielt auf die öffentliche Meinung, auf die Veränderung unserer Gesellschaft. Sie soll nach eigenem Bekunden »den Bürgern die Staatsgläubigkeit austreiben«. Das »Umerziehungsprogramm für widerspenstige Bürger«, wie es der Tagesspiegel nennt, hat sich die »Senkung der Sozialkosten« und die »Entrümpelung des Arbeitsrechts« auf die Fahnen geschrieben. Den jährlichen Etat von knapp 10 Millionen Euro steckt die INSM hauptsächlich in die Plazierung ihrer Botschaften in den Medien.

Zehn Jahre lang, bis ins Jahr 2010, macht der Wirtschaftsverband Gesamtmetall, der Zusammenschluss von 16 Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie, dieses Budget locker. Mit bis zu 40 festen und freien Mitarbeitern spielt die INSM gekonnt auf der Klaviatur der Public Relations Instrumente. Nach Meinung des Heidelberger Politikprofessors Manfred Schmidt ist sie »die erfolgreichste Lobby die die Wirtschaftsliberalen in Deutschland je hatten«.

Wichtigster Partner bei dem Spiel sind die Medien. Die INSM beliefert Journalisten nicht nur mit Pressemeldungen und wissenschaftlichem Faktenmaterial, sie schafft Events, initiiert groß angelegte Kampagnen in Print, Hörfunk, Fernsehen und Internet. Ein typisches Vorgehen: In der Regierung fallen Äußerungen, man werde »die Sozialsysteme in Ordnung bringen«. Daraufhin schaltet die INSM in mehreren Zeitungen eine Anzeige, die die Pflegeversicherung als defizitären Bumerang beschreibt. Zudem gibt sie eine Studie in Auftrag, eine argumentative Unterstützung ihrer Forderung: die Abschaffung der Pflegeversicherung. Bereits Tage vor der Veröffentlichung lancieren ihre PR-Leute gezielt Informationen bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeit. ZDF, Phönix und die Nachrichtenagenturen dpa und ap steigen in die Berichterstattung ein. Pressekonferenz im Haus der Bundespressekonferenz. Tageszeitungen und Wirtschafts-Magazine geben die Botschaft an Millionen Deutsche weiter. 300 bis 400 Veröffentlichungen sind bei diesen Pressekampagnen keine Seltenheit.

So wird das Nachrichtenkarussell in Gang gebracht. Ganz professionell nach allen Regeln der PR-Kunst. Das ist ein gutes Recht, erkennen selbst Kritiker neidvoll an. Sie befürchten allerdings ein Meinungsmonopol durch die enorme Finanzkraft der Initiative, denn in der Bundesrepublik gibt es zur INSM nichts Vergleichbares, kein Gegengewicht. Eine Anzeigenserie von Sozialhilfe-Empfängern für ein Update auf Hartz 5? Fehlanzeige. Eine millionenschwere Kampagne von Rentnern gegen die Besteuerung ihrer Altersbezüge? Unvorstellbar. Rudolf Speth von der FU Berlin: »Man muss das Ganze in eine Entwicklung eingebettet sehen, in der immer mehr Akteure die politischen Entscheidungen mit avancierten PR-Methoden beeinflussen. Das Problem ist, dass es zu großen Ungleichgewichtungen kommt. Politik driftet weiter in Richtung Marketing.«

ALLIANZ DER MEINUNGSMACHER

Nicht nur, dass Politik von Werbeprofis gemacht wird, findet Kritik, sondern auch, dass viele Veröffentlichungen als journalistische Meldung daherkommen und die INSM oftmals im Hintergrund bleibt. Nach einer Analyse des Kommunikationswissenschaftlers Christian Nuernberg taucht die INSM selten als Quelle auf. Und in lediglich knapp sechs Prozent der Berichte wird sie als Initiative des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall angegeben. Das gilt auch für das Fernsehen: Im Jahr 2002 plazierte die INSM Themen in sieben Folgen der ARD-Serie Marienhof. Dafür investierten sie einen Betrag von 58670 Euro.

Es waren scheinbar einfache Spielszenen. Ein Arbeitgeber droht seiner Mitarbeiterin, die pünktlich Feierabend machen will: »Wenn sie immer nur Dienst nach Vorschrift schieben, dann werden sie es nie weit bringen!« Bei den Themen sei es um die »ideologiefreie« Vermittlung wirtschaftlicher Grundkenntnisse gegangen, meint die INSM. Dem widerspricht eine Analyse der Initiative LobbyControl. »Ein genauer Blick auf Schnittprotokolle zeigt deutlich, wie mit einzelnen Szenen in den betreffenden Marienhof-Folgen Arbeitgeber-Interessen verfolgt wurden«, erläutert Ulrich Müller von LobbyControl. Die Quittung: Der Deutsche Rat für Public Relations (DRPR) – ein Kontrollgremium der Branche, das für Offenheit im PR-Gewerbe sorgen soll – sprach eine öffentliche Rüge wegen bezahltem Themenplacements aus. »Schleichwerbung stellt eine unzulässige Form der Zuschauerbeeinflussung dar«, heißt es im Urteil. Die INSM akzeptierte die Rüge.

Für einige Printmedien ist die INSM nicht nur Anzeigenkunde sondern auch Partner, der für Content sorgt. Bei den Kooperationen sind Rankings ein ganz spezielles Mittel der INSM. Mit der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung kürte sie den »Reformer-« und den »Blockierer des Jahres«. Gemeinsam mit dem Wirtschaftsmagazin impulse lobte sie einen Journalistenpreis aus und im Handelsblatt lief die Serie »Bremsklotz Bürokratie«. Die Medienpartnerschaft mit der WirtschaftsWoche sorgte für Wirbel. Sachsens Regierungschef Georg Milbradt (CDU), der zum »Ministerpräsident des Jahres« auserkoren wurde, bekam die Auszeichnung nur wenige Tage vor den Landtagswahlen werbewirksam überreicht. Zufall?

Bei den Angeboten der ISNM werden selbst gestandene Journalisten schwach. Die Zeit berichtete, dass Die Welt beim »Lautsprecher des Kapitals« – so der Titel ihrer INSM-Story – einen Rechercheauftrag erteilte. Ein Redakteur »hat uns angerufen und gefragt, ob wir ihnen ein Dossier zusammenstellen können«, bestätigte ihnen Dieter Rath. Das Thema erschien unter der Überschrift »Die größten Jobvernichter der Bundesrepublik«, eine Doppelseite auf der die angeblichen Vergehen der letzten Jahrzehnte aufgelistet werden. Welt Ressortleiter Marcus Heithecker entschuldigt das Vorgehen mit den Worten: »Wir haben überlegt, wie man dafür an notwendige Hintergrundinformationen kommt.« Wie macht ein Redakteur das wohl? Journalistikprofessor Siegfried Weischenberg meint das sei »Teil einer Entgrenzung zwischen Journalismus und PR, wenn man Recherche an Lobbyisten abgibt, um sie billiger zu haben«.

Mitunter ist bei der Zuarbeit der INSM Vorsicht geboten. Bei einem Bundesländer-Ranking, das die Wirtschaftswoche gemeinsam mit der Initiative erstellte, passierte ein Fehler. Danach hätte sich die niedersächsische Landesregierung nach Amtsantritt von Christian Wulff (CDU) bei der Arbeitslosenquote im Ranking um drei Plätze verbessert. Offizielle Zahlen belegen das Gegenteil. Nach den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit und des Landesamtes für Statistik stieg die Arbeitslosigkeit 2005 im Vergleich zum Vorjahr in Niedersachsen etwa um das Doppelte wie im Bundesdurchschnitt.

Türöffner bei den Medien, Interviewpartner und Dauergäste in den Talkshows sind die so genannten »Botschafter« und Berater der INSM. Die Liste liest sich wie das Who is Who der deutschen Wirtschaft. Um nur einige zu nennen: Roland Berger (Unternehmensberater), Ralf Dahrendorf (Mitglied des britischen Unterhauses), Michael Hüther und Hans-Dietrich Winkhaus (Institut der deutschen Wirtschaft), Martin Kannegießer (Arbeitgeberverband Gesamtmetall), Arend Oetker (Vize-Präsident des BDI), Dagmar Schipanski (CDU, Präs. des Thüringer Landtags), Lothar Späth (CDU, Jenoptik AG), Hans Tietmeyer (ehemaliger Präsident der Bundesbank) Die INSM glänzt nicht gerade durch ein Überangebot an ausgewiesenen Sozialexperten.

In der Talkrunde von Sabine Christiansen saßen schon mal gleich mehrere Vertreter der INSM. Und in der ARD Sendung vom 19.9.2005 redeten laut Anmoderation »drei exponierte Wissenschaftler Klartext über zukünftige Einschnitte (in die Sozialsysteme Anm.d.R.). Einschnitte, die unbedingt notwendig sind.« Die Diskussion ließ echte Kontroversen vermissen. Kein Wunder. Denn die drei Experten waren arbeitgebernah – alle Botschafter oder Kuratoren der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft«. Der Zuschauer erfuhr davon nichts.

INSM-Botschafter tauchen in den Medien meist nur als unabhängige Wissenschaftler und Experten auf, nicht aber mit ihrer Zugehörigkeit zu einer Interessenvertretung der Arbeitgeber. Wer steckt hinter einem Interview im Bonner Generalanzeiger zum Thema »Beamtentum der Lehrer abschaffen«? Da befragte ein INSM-Gesinnungsgenosse den anderen – ohne dass es der geneigte Leser erfuhr. Dieter Lenzen wurde als Präsident der FU Berlin von Carsten Seim als unabhängiger Journalist interviewt.

EXPERTEN IN EIGENER SACHE

Exot unter den Beratern der INSM ist Oswald Metzger. Dessen sechsjähriger Betrieb eines Schreibbüros profilierten ihn offenbar zum »Finanzexperten« von Bündnis 90/Die Grünen. Immer wieder macht er sich die Argumentation der INSM zu eigen, hält jährlich etwa hundert Vorträge. Vehement beklagt sich Metzger über die hohe Abbrecherquote bei den Studenten heute. Er selbst hat sechs Jahre in Tübingen Rechtswissenschaften studiert. Einen Abschluss kann er allerdings nicht vorweisen – nicht einmal das erste Staatsexamen. Metzger verlangt flächendeckend Studiengebühren an deutschen Unis – ganz im Sinne der INSM, die zu jeder Gelegenheit »Privatinitiative« einfordert.

Manche wissen offenbar am besten, was für Andere gut ist. Der ehemalige Berater von Willy Brandt, Albrecht Müller, beklagt sich über die INSM Botschafterein Dagmar Schipanski: Sie möchte die sozialen Sicherungssysteme nur noch als »Grundversorgung« sehen, sei aber selbst mit der vollen Pensionsberechtigung einer Professorin ausgestattet. Herausgeber Müller schreibt in seiner kritischen Website »NachDenkSeiten« zur INSM: »Wollte man polemisch werden, dann könnte man sagen: bestens sozial Abgesicherte machen sich über das soziale Sicherungsbedürfnis der weniger Begüterten her.«

Der Chor der INSM-Botschafter, der das Lied von radikalen Steuersenkungen und dem »schlanken Staat« singt, fordert andererseits mehr staatliche Gelder für Bildung und Ganztagsbetreuung von Kindern. Mit Logik hat das nichts zu tun – eher mit der knallharten Wahrnehmung eigener Interessen. Bei rückgängigen Ausbildungsquoten in Unternehmen rufen Arbeitgeberverbände ausnahmsweise mal nach dem Staat. Verpackt wird alles in wohlklingende Slogans: »Verwirklicht die Freiheit in allen Lebensbereichen«, »Neue Jobs für junge Alte«, »Wie Europa zu mehr Wachstum kommt«. Über den Medien-Kreuzzug der INSM, die nach eigener Aussage »nur Werte transportieren« will, schreibt Die Zeit: »Wer am Ende die Herrschaft in einer Debatte erringt, dem winkt der höchste Preis – eine Politik nach seinem Gusto.«