Magazin #25

Stille Schreie

Düstere Vergangenheit, die sich in finnischen Wäldern verliert – Zigarettenpausen im Irak Krieg – Eine Gemeinde auf dem Land wird zum Molloch – Michael Klein-Reitzenstein präsentiert drei neue Fotobücher voller Seitenblicke.

Text – Michael Klein-Reitzenstein
Fotos – Janne Lehtinen, Thomas Dworzak & Andrew Phelps

Die Schrecken der Vergangenheit

In die tiefen Wälder Finnlands ist der Fotograf Janne Lehtinen zurück gekehrt, um dunkle Geschehnisse seiner Jugend aufzuarbeiten. Sein Buch bringt die Stille zum Schreien.

In »Sacred Birds«, seinem beeindruckenden Erstlingswerk aus dem Jahre 2004, beschäftigte Janne Lehtinen sich in phantasievollen, ironisch verspielten Bildern mit dem uralten Traum der Menschheit vom Fliegen. Schon diese Arbeit trug autobiographische Züge, war sein Vater doch ein bekannter finnischer Segelflieger.

In seinem soeben erschienenen Buch »The Descedants«, begibt sich Lehtinen auf eine Reise zurück in seine Kindheit nach Lehtiskylä – seinem Heimatdorf im Süden Finnlands. In dieser Gegend, so sagt die Legende, ist allen Bewohnern unabwendbar ein tragisches Schicksal vorherbestimmt.

Erinnerungen aus seiner Kindheit und die Frage, ob dieser Fluch noch immer auf dem Ort und seinen Menschen lastet, haben ihn nicht losgelassen. Er hat deshalb Familiengeschichten über Tragödien, Unglücke und Todesfälle aus dieser Zeit zusammengetragen und alte Fotografien gesammelt. Der Fluss, in dem sie im Sommer immer baden gingen. Ein Mann ertrank dort, dessen Leiche erst Tage später gefunden wurde.

Eine alte Fotografie zeigt zwei völlig zerstörte Autowracks. Ein Sumpf, hier wurde der Nachbar gefunden, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Der Verfolgungswahn des Vaters, seine Tobsuchtsanfälle, und seine Abneigung gegen die Söhne. Fetzen einer alten, halb verkohlten Zeitung. Erinnerung an den Nachbarn, der in seinem Haus verbrannte. Andenken an den Onkel, der wahnsinnig wurde. Noch heute kann man manchmal weggeworfene Pillengläschen in seinem Garten finden.

Im Laufe mehrerer Jahre ist Janne Lehtinen immer wieder nach Lehtiskylä zurückgekehrt, um die Traumata seiner Kindheit zu bewältigen. Die bedrückende Atmosphäre der Vergangenheit prägen die Aufnahmen, die bei diesen Besuchen entstandenen sind. Sie zeigen melancholische Naturansichten, Stillleben und Aufnahmen von Innenräumen im Wechsel mit inszenierten Porträts. Eingefügt sind in kurzen Texten und alten Fotografien die Geschichten, die Lehtinen zusammengetragen hat.

Die bemerkenswerten Porträtaufnahmen zeigen ihn mit seinem Bruder in Szenen, wie sie damals wohl stattgefunden haben. Sie sind gleichzeitig die Kinder von früher und die Erwachsenen von heute, die in ihre Kindheit zurückgekehrt sind. Vage oszillieren die Bilder zwischen Dokumentarischem und künstlerisch Gestaltetem. Nie ist sich der Betrachter sicher, ob Räume, Orte und Gegenstände verändert wurden oder authentisch sind. Aber das spielt letztlich keine Rolle, denn: »Ich stelle fiktive Szenen einer wahren Geschichte dar«, sagt der Künstler.

Janne Lehtinen sind faszinierend geheimnisvolle Bilder gelungen, die beides zeigen: das Lehtiskylä, das der Erwachsene und Künstler bei seinen Besuchen nach langer Zeit der Abwesenheit erblickt und interpretiert hat. Gleichzeitig die Welt seiner Kindheit mit all ihren Erinnerungen und Phantomen.

Da strömt der Fluss idyllisch im Licht der Nachmittagssonne durch den Wald. Sieht man genauer hin, erahnt man den kleinen Jungen, der ängstlich und verstört den Pfad am gegenüberliegenden Ufer entlang hastet, um schnell von dem bedrohlich dunklen Wasser wegzukommen, das die Leiche eines ertrunkenen Mannes nicht freigibt.

Das alte Wohnmobil, geheimes Versteck und Rückzugsort für ihn und seinen Bruder. Es steht noch immer auf der kleinen Lichtung im Wald, halb überwuchert und zugewachsen von Büschen und Bäumen wie damals.

Trotz der vielen tragischen Vorkommnisse, die den Bildern zugrunde liegen, strahlen diese – neben ihrer unterschwelligen Melancholie – vor allem Versöhnung und stillen Frieden aus. Die Vergangenheit hat ihre Schrecken verloren, Janne Lehtinen hat sich von seinen Kindheitserinnerungen befreit. Der Mythos vom tragischen Schicksal hat seine Existenz verloren.

 

Verblüffende Analogien

Thomas Dworzak zeigt Begegnungen von Soldaten und Zivilbevölkerung im Irak – sensibel und menschlich.

1970: In den USA erreichen die Proteste gegen den Vietnamkrieg ihren Höhepunkt. Robert Altman bringt M*A*S*H ins Kino. Der Film schildert die Erlebnisse einer medizinischen Einheit im Koreakrieg – gemeint ist Vietnam. Sowohl der Spielfilm als auch die daran anknüpfende Serie, die von 1972 bis 1983 (also länger als der Vietnamkrieg) lief, sind eine bitterböse Satire auf den Krieg und verlogene Propaganda.

2003: Der Krieg im Irak ist festgefahren, die Amerikaner kriegsmüde. Geschichte scheint sich zu wiederholen. Eine mit M*A*S*H vergleichbare, mediale Auseinandersetzung mit dieser Situation, ist im heutigen Amerika undenkbar.

Thomas Dworzak ist Kriegsphotograph und seit 2004 Vollmitglied bei Magnum. Er fotografierte die Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien, in Osteuropa und Afghanistan. Von 2003 bis 2005 dokumentierte Dworzak als »Embedded Photographer« für U.S. News & World Report bei mehreren medizinischen Einheiten der US Armee das Kriegsgeschehen im Irak.

Schon bei früheren Publikationen wie »Taliban« oder »Hussein Screenshots«, entschied er sich für eigenwillige Präsentationsformen. Für die Veröffentlichung seines M*A*S*H-I*R*A*Q – Projektes als Podcast und Buch, kombiniert Dworzak untertitelte Screenshots aus der M*A*S*H Serie mit seinen eigenen Irak-Bildern.

»My morale is fine. I love it here« – der Protagonist aus M*A*S*H grinst, aber die Gesichter der Soldaten auf den folgenden Seiten sprechen eine ganz andere Sprache. Sie zeigen ihre Angst im Einsatz oder lassen die traumatischen Bilder ahnen, von denen sie heimgesucht werden, wenn sie längst wieder in Sicherheit sind. »Well, shall we repair the effects of heroism?« – Dem Zitat folgt eine Serie blutiger Szenen aus dem Lazarettalltag. Drastischer kann Satire kaum sein.

Das Buch erschöpft sich jedoch nicht in sarkastischen Gegenüberstellungen von Filmstills und realen Bildern. Dworzak kombiniert die fiktiven und die wirklichen Bilder viel subtiler: »Captain Pierce, why are we here?« – scheint ein junger Soldat verzweifelt zu fragen. Er lehnt an einer zerborstenen Treppe, Hoffnungslosigkeit in den Augen. Was mag er gesehen haben?

Ohne für eine Seite Partei zu ergreifen, entstehen verblüffende Analogien zwischen den Filmbildern von gestern und den Fotografien von heute. Seine Aufmerksamkeit richtet Dworzak oft auf Einzelpersonen. Ihm gelingen beeindruckende Porträts, die über das individuelle Schicksal des Abgebildeten hinaus Allgemeingültigkeit haben. Dworzak blickt auch kritisch auf die Medien und sich selbst: »… taking pictures of the wounded for scrapbooks, for Pete’s sake!«, sagt der Arzt in M*A*S*H, das Gegenbild auf der Doppelseite zeigt ein getötetes Kind. Die Szene wird von einem Soldaten mit dem Camcorder gefilmt. »If I take their picture, they live« – helfen oder fotografieren, das ewige Dilemma der Reporter. »I don’t wanna help you make the cover of Life.« »Or Death. Whichever comes first.« Mit diesen Zitaten lässt Thomas Dworzak dieses außergewöhnlich eindringliche Buch über die Absurdität des Krieges enden.

 

Molloch Suburbia

Andrew Phelps besucht erstmals nach 20 Jahren seinen Geburtsort Higley, und nichts ist mehr so, wie es mal war.

Higley? Ein geheimnisvoller Titel, der den Betrachter zunächst im Unklaren lässt. Die ersten Bilder jedoch lösen das Rätsel: Higley ist eine kleine ländliche Gemeinde in der Nähe von Phoenix / Arizona. Hier hat Andrew Phelps, der Autor, bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr gewohnt. Anfang der 90er Jahre zog er nach Europa und lebt heute in Salzburg.

Nachdem er 20 Jahre nicht dort gewesen war, kommt er zurück und erkennt Higley kaum wieder. Die Region ist im Umbruch. Alte ländliche Strukturen sind in Auflösung begriffen, die meisten Farmer haben ihr Land an Grundstücksgesellschaften verkauft und viele sind weggezogen. Verlassene Häuser, dem Verfall preisgegeben, dominieren nun das Erscheinungsbild des alten Higley.

Phoenix, die wachsende Metropole, verleibt sich Higley nach und nach ein, bis nichts mehr bleibt, außer ein paar Strassennamen. Stattdessen werden fieberhaft eintönige Schlafsiedlungen aus dem staubigen Prärieboden gestampft.

Die persönliche Verbindung des Fotografen, vor allem der seltsame Schwebezustand des Ortes zwischen Gestern und Morgen und die Tatsache, das es überall auf der Welt Landstriche gibt, die ein ähnliches Schicksal teilen, faszinierten Andrew Phelps so, dass er sich mit diesem Phänomen fotographisch auseinandersetzte.

Ein Bild zeigt den Innenraum eines Abbruchhauses. Eine Wand ist halb herausgeschlagen. Die Löcher im Gerippe der Lattenkonstruktion geben den Blick ins Nebenzimmer frei. Das gegenüberliegende Motiv dieser Doppelseite ist ein Porträt von vier mexikanischen Arbeitern, die bereit scheinen, nach Beendigung ihrer Pause durch eben diese Löcher zu steigen, um ihre Arbeit fortzusetzen.

Eine Steppenhexe, dieser charakteristischen Gestrüppballen, der in jedem ordentlichen Western über die staubige Prärie weht, liegt hier brav auf einer gerade fertig gestellten sauberen Betonzufahrt. Sinnbild für den domestizierten Mythos. Geschickt ergänzt Phelps dieses subtile Bild auf der Gegenseite durch ein Motiv, auf dem sich die Textur des »Tumbleweed« auf dem Auto und der dahinter liegenden Scheune reflektiert. Das darauf folgende Einzelbild zeigt eine typische Suburbiagegend. Am Horizont schiebt sich eine neue Trabantenstadt nach vorn auf eine öde Brache. Ein Schild im Vordergrund zeigt die Straßennamen: »Buckaroo Trail«und »Liberty Lane« – ein fernes Echo auf die Zeiten, als der Westen noch wild und ungebändigt war.

Die auf den ersten Blick nüchtern-dokumentarischen Fotografien offenbaren bei genauerem Hinsehen viel Subtilität und Symbolgehalt. Immer wieder ist es Phelps gelungen, das Nebeneinander von Vergangenheit und Zukunft in seinen Bildern auszudrücken. Gleichzeitig stieß er auf Spuren seiner Kindheit. Eines der Fotografien zeigt eine Holztafel mit Familienbildern, achtlos an eine Wand gestellt. Die Tafel war im ehemaligen Haus seiner Großmutter zurückgeblieben, sie konnte sie nicht ins Altersheim mitnehmen.

Neben den vielschichtigen inhaltlichen Verweisen und Zusammenhängen fügen sich die Bilder auch immer wieder farblich, strukturell und formal gekonnt aneinander. Eine harmonische, in sich geschlossene Arbeit, sehr persönlich und doch allgemein gültig.

Janne Lehtinen
The Descendants
mit einem Vorwort von Jan Kaija und Texten von Oiva Lehtinen, Janne Lehtinen und Juha Lettinnen
Ostfildern, Hatje Cantz Verlag, 2007
80 Seiten, mit 42 Abb., 39,80 Euro

Thomas Dworzak
M*A*S*H
I*R*A*Q

London, Trolley Books
2007, 144 S., mit 133 Abb. in Farbe und SW, 29,95 Euro.

Neben der Veröffentlichung in Buchform wurde M*A*S*H-I*R*A*Q auch als (ebenfalls sehr sehenswertes) Podcast auf die Magnumseite gestellt. (www.magnumphotos.com – inMotion – podcasts).

Andrew Phelps
Higley
Heidelberg, Kehrer Verlag
2007, 128 Seiten mit 80 Farbabb., 40,00 Euro

Die Galerie Robert Morat in Hamburg zeigt »Higley« vom 12.1. bis 26.2.2008

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Michael Klein-Reitzenstein
leitet die Buchhandlung im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen.