Magazin #11

Über Journalismus, den Krieg und Kollegen in Gefahr

Text – Michael Seufert

Die Schreckenskunde kam am 14. Juni 1999 in den Frühnachrichten – zwei deutsche Journalisten im Kosovo erschossen. Namen wurden nicht genannt. Der erste Gedanke: Wer sind die Opfer, kennst du sie? Und der zweite: Mein Gott, wer muss die Todesbotschaft den Angehörigen überbringen, den Eltern, der Ehefrau, den Kindern.

Es war viereinhalb Jahre her, aber plötzlich wurde alles wieder so gegenwärtig, als ob es gestern gewesen wäre. Damals, im Januar 1995, erreichte uns in der Chefredaktion des Stern abends ein Anruf aus Moskau. Unser junger Korrespondent Jochen Piest war von einem tschetschenischen Kamikaze-Kommando an einer Bahnstation 25 Kilometer von Grosny entfernt mit drei Kugeln erschossen worden. Piest war gerade 30 Jahre alt und erst seit zehn Monaten auf seinem Posten. Dort hinzugehen war sein größter Wunsch gewesen. Er kannte und liebte Land und Leute, sprach perfekt Russisch. Es war für ihn der spannendste Arbeitsplatz eines Journalisten. Als ich ihm im Jahr zuvor gesagt hatte, er sei der neue Mann für Moskau, wäre er mir fast um den Hals gefallen.

Und dann der Anruf aus Moskau, die grausame Nachricht. Es war rasch klar, ich würde mich in das nächste Flugzeug setzen und zu den Eltern fahren. Hoffentlich war bis zu meiner Ankunft der Name noch nicht bekannt geworden.

Die nächsten Stunden waren quälend. Ich fragte mich immer wieder: Haben wir Fehler gemacht? Hätten wir ihn überhaupt in das Kriegsgebiet reisen lassen dürfen? Er hatte es gewollt; das Risiko sei begrenzt, und er sei doch mit russischen Soldaten unterwegs. Piest wollte wissen, was sich wirklich in diesem mörderischen Feldzug abspielte, mit dem eine ganze Region verwüstet wurde. Informationen aus erster Hand, jenseits aller Propaganda.

Die Suche nach der Wahrheit treibt die Reporter in die Krisengebiete, denn nie wird so viel gelogen wie im Krieg. Der Golfkrieg wochenlang als eine Art Computerspiel auf unseren Fernsehschirmen, das Gemetzel in Bosnien von den Serben als »ethnische Säuberung« verniedlicht, sind nur zwei Beispiele dafür. Aber keine Geschichte kann so gut sein, dass Journalisten dafür sterben. Heißsporne sind für solche Aufgaben nicht gefragt. Doch wenn es kein offensichtliches Himmelfahrts-Kommando ist, werden die Verantwortlichen eines Blattes dem Wunsch der Reporter zustimmen. Es sind ja eben keine Rambo-Typen, die sich für solche Reportagen freiwillig melden, sondern kenntnisreiche, risikobewusste, besonnene Kollegen.

Mit solchen Gedanken stand ich in jenem Januar schließlich vor der Tür der Eltern. Inzwischen war die Meldung vom Tod eines deutschen Journalisten über Radio und Fernsehen verbreitet worden. Die Mutter öffnete, sah mich und wusste sofort, was mein Besuch zu bedeuten hatte. –

Schon bald wurde im Juni 1999 dann bekannt, dass die Toten im Kosovo meine ehemaligen Kollegen vom Stern waren, der Reporter Gabriel Grüner und der Fotograf Volker Krämer. Zwei Kollegen, die ich lange kannte und sehr schätzte und auf die das vorher Gesagte genau zutraf – kenntnisreich, erfahren, besonnen. Und sicherlich wurden wieder die gleichen Fragen gestellt, und die Trauer in den Familien war unermesslich.

Es ändert sich nichts daran: Im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit. Und dann sterben offenbar die Menschen, die trotzdem danach suchen.

(Überarbeitete Fassung eines Beitrages aus dem Hamburger Abendblatt vom 16. Juni 1999)

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Michael Seufert
war bis 1997 stellvertretender Chefredakteur des Stern. Er arbeitet heute als Schriftsteller in Hamburg.