Magazin #35

100 Jahre Leica – die Historie, der Mythos und ich

Oskar Barnacks Erfindung der Ur-Leica bedeutete einen technischen Meilenstein für das Medium Fotografie. Ihren Erfolg verdankte die Leica ihrer einfachen Handhabung und den medialen Anforderungen jener Zeit. Heute wird sie mehr denn je verehrt.

von – Sascha Rheker

»Wer sehen kann, kann auch fotografieren. Sehen lernen kann allerdings lange dauern.« (Werbespruch der Leica AG). Foto: Leica Camera AG
»Wer sehen kann, kann auch fotografieren. Sehen lernen kann allerdings lange dauern.« (Werbespruch der Leica AG). Foto: Leica Camera AG

Fangen wir mit folgender These an: Mit der Leica wurde die Fotografie elektrifiziert, denn die Fortschritte bei der Herstellung von Glühbirnen durch die Einführung des Wolframglühfadens 1911 sind einer der Schlüssel zum Erfolg der vor 100 Jahren von Oskar Barnack entwickelten Leica.

So abwegig das angesichts der rein mechanischen Leica im ersten Moment klingen mag: ohne die Entwicklung leistungsfähiger elektrischer Glühbirnen zur Konstruktion von Vergrößerern (und Dia-Projektoren) wäre das kleine Negativ der Leica eine technische Sackgasse gewesen. Das eigentlich Revolutionäre war nicht, Kamera und Negativformat zu verkleinern – das hatten andere schon vorher getan – sondern die Negative anschließend zu vergrößern.

Den immensen Erfolg von Barnacks kleiner Kamera, die ursprünglich nur als Gerät zum Eintesten der Empfindlichkeit von Kino-Film-Chargen gedacht war, kann man dann verstehen, wenn man ihn im Kontext all der technischen Neuerungen und gesellschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts betrachtet. Diese schufen in ihrem Zusammenspiel erst die Voraussetzungen für die Kamera. Ein Umstand, der Parallelen zum Erfolg des iPhones aufweist.

Die Filme wurden lichtempfindlicher und hochauflösender, was das kleinere Negativformat ermöglichte. Dies zog die Konstruktion kompakter und lichtstarker Objektive nach sich. Der verwendete 35mm Kinofilm ließ 36 Aufnahmen ohne Filmwechsel zu und die Filmpatrone erlaubte den einfachen Filmwechsel unterwegs. Die Kamera war somit schnell, transportabel und ermöglichte es, Momente des normalen Lebens einzufrieren, ohne dass man dieses vor der Aufnahme erst mühsam in Position bringen musste.

Die Leica betrat genau zu der Zeit die Bühne, als das Foto in Zeitungen und anderen Druckerzeugnissen an Bedeutung gewann. Dank Bildtelegrafie wurde es möglich, zusätzlich zu Text-Nachrichten auch Bilder zu übertragen. Die mit der Leica fotografierten Nachrichtenbilder kamen aus einer immer schneller und enger zusammenrückenden Welt. Telegrafenkabel tickerten auf dem Meeresboden, Zeppeline überquerten den Atlantik, der Passagierverkehr mit Flugzeugen begann. Für viele Zeitgenossen stellte sich die Welt als wahr gewordene Jules-Verne-Version da.

Nicht zuletzt ebnete da der Kleinbildfilm mit seinen 36 Bildern und einfacher Handhabung den Weg zum Aufstieg der Fotografie als Massenmedium für Menschen, die sich nicht mit der Entwicklung von Filmen und Abzügen beschäftigen wollten.

 

Der Mythos

 

Die Geburtsstunde der Leica fällt auch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zusammen. Dieser markiert einen Wendepunkt hinsichtlich der Technisierung des Krieges und der Nutzung von Fotografie als Propagandamittel. Fotografen, Fotografien und Zensur wurden gezielt eingesetzt, um die Meinung der Öffentlichkeit zu steuern. »Die Ikonisierung der eigenen Soldaten, die Heroisierung des Kampfes und die Herabwürdigung des Feindes setzten während des Ersten Weltkriegs Standards, die noch heute gelten«, konstatiert Markus Becker in seinem Spiegel-Artikel über »Fotografie im Ersten Weltkrieg«.

Eine der Folgen dieser Bilder, die aus dem Schlachtgeschehen stammten oder zumindest den Eindruck erweckten, bestand in der veränderten Rollenwahrnehmung des Fotografen, der sich mutig für ein Bild in Gefahr begab. Er wurde vom anonymen Bildlieferanten zum verehrten Fotoreporter, der aus der Perspektive des Augenzeugen berichtete. Bis heute haben »Kriegsfotografen« eine herausgehobene Stellung unter Fotojournalisten.

Ein Teil des »Mythos Leica« resultiert aus den Bildern, die mit diesen Kameras gemacht wurden. Viele von ihnen, auch Kriegsbilder, haben Geschichte geschrieben und sind Teil unseres visuellen Gedächtnisses. Das von Barnack festgelegte Seitenverhältnis von 3:2 prägt bis heute unsere Vorstellung davon, wie ein Foto auszusehen hat.

Obwohl mittlerweile Spiegelreflexkameras weit verbreitet sind und die meisten Fotos mit Smartphones aufgenommen werden, ist die M-Leica nach wie vor eine Design-Ikone und wird universell als »Kamera« verstanden – was sich u.a. am »Fotografieren verboten«-Schild zeigt. Gleichzeitig kann nicht bestritten werden, dass die Marke Leica vielen als Statussymbol und Luxusobjekt dient. Dies zeigt sich insbesondere bei seltenen Modellen, die auf Auktionen zu Preisen jenseits der Millionengrenze gehandelt werden.

 

Die Leica und ich

 

David Douglas Duncan hat sich in den 50er Jahren vier Vorserien-MPs nach seinen Wünschen von Leitz fertigen lassen. Die Preise, die diese Kameras heute erzielen, sind bestenfalls befremdlich. Das ändert aber nichts an dem schönen Gedanken, dass jemand über Jahrzehnte dieselbe Kamera nutzen kann und diese, wann immer sie kaputt geht, reparabel ist. Das gilt sogar für eine Leica aus den 20er Jahren.

Eine Kamera zu kaufen, weil ein anderer Fotograf mit dieser ein berühmtes Picasso-Porträt fotografierte, macht aus der Kamera einen Fetisch. Aber eine Kamera zu besitzen, mit der man seit Jahren arbeitet, an die man sich gewöhnt hat und an deren Einschränkungen man fotografisch wächst, bildet einen tröstlichen Kontrapunkt zu einer Wegwerfgesellschaft, die bestimmt ist von schnellen Modellwechseln und unwirtschaftlichen Reparaturen.

Eine Leica M9 ist aktuell meine älteste Digitalkamera. Es ist nicht so, dass die über die Jahre besser geworden ist. Der technische Abstand zu den Kameras von Canon, die ich sonst nutze, ist eher gestiegen. Aber trotzdem werden die Ergebnisse mit der Leica immer besser, weil man sich über die Zeit zusammengerauft hat. Und ich bilde mir ein, dass ich Teile dieses Entwicklungsprozesses auch in die Arbeit mit meinen aktuellen Canon-Modellen einbringen kann.

Zu guter Letzt muss ich schlicht gestehen: Ich hab so eine Leica gerne in der Hand. Und das, obwohl die Form der Ur-Leica bis zur aktuellen M kein ausgeklügeltes ergonomisches Design hat, sondern vom Grundprinzip der zwei Filmspulen und dem rechteckigen Filmfenster dazwischen bestimmt ist.

Eigentlich dürfte diese Kamera also gar nicht so schön anzufassen sein. Und auch der Umstand, dass die Bedienelemente sich im Wesentlichen auf Zeit, Blende und Fokussierung beschränken und deren Positionierung maßgeblich davon bestimmt ist, dass sie eben an der Stelle früher mechanisch auf das Innenleben der Kamera wirkten, lässt einen staunen, dass doch alles da ist, wo es hingehört.

Das Einzige, was Sorge bereiten könnte, sind die ständig steigenden Preise und eine Entwicklung hin zum teuren Lifestyle-Accessoire. Irgendwann ist die Leica vielleicht nicht mehr da, wo sie hingehört: in den Händen von Fotografen.


Sascha Rheker
Seit 2001 ist der studierte Politologe als Fotograf für Tageszeitungen und Magazine tätig. Er fotografiert gerne mit analogen und digitalen Kameras von Holga bis Leica. Er ist im Vorstand von FREELENS.