Magazin #02

107 Jahre und eine dreißigstel Sekunde

Seit 107 Jahren geht National Geographic auf Entdeckungsreise. Nun erlaubt sich die Redaktion kritische Töne und ihr Forscherdrang widmet sich öfter Sozial- und Umweltthemen.

Text – MANFRED SCHARNBERG

Am 13. Januar 1888 trafen sich ehrwürdige Gelehrte, weitgereiste Entdecker und wohlmeinende Finanziers im gediegenen Cosmos Club in Washington DC und gründeten die National Geographic Society. Diese Gesellschaft, die »geographisches Wissen mehren und verbreiten« will, ist heute eine gigantische Mischung aus wissenschaftlichem Institut, Reisebüro und Medienkonzern. Ihr Ansehen ist bei manchen so hoch, daß selbst der Papst nicht mithalten kann. Eine jüngst gemachte Mitgliederbefragung bescheinigt National Geographic eine größere Glaubwürdigkeit als dem Vatikan.

Ein Grund für die erstaunliche Akzeptanz und Verbreitung der Gesellschaft ist die Herausgabe des National Geographic Magazine. Die Mitgliederzeitschrift hat weltweit eine Auflage von acht Millionen. Man schätzt, daß sie insgesamt von 32 Millionen Menschen gelesen wird, 70 Prozent davon sind Amerikaner. Neuerdings gibt es sogar eine Ausgabe in japanisch.

Das Erfolgsrezept ist einfach: Man finanziert Forschungs- und Entdeckungsreisen, beobachtet gesellschaftliche Entwicklungen in aller Welt und berichtet aus erster Hand darüber. Schon Anfang des Jahrhunderts erkannte man: »Geographie ist mehr als Karten und Tabellen. Es ist das Studium des Mitmenschen.« Und so traf man mit exakten, persönlichen Augenzeugenberichten den Nerv der Amerikaner. Die Leser hatten das Gefühl, dabei zu sein, wenn National Geographic’s Expeditionen zu Lande, zu Wasser und in der Luft die weite Welt entdeckten. Die Abenteuer »ihrer« Leute werden oft in der ganzen Familie gelesen und diskutiert. Irgendwie gehört National Geographic Magazine zur Familie.

Die ganze Society ist so »familiär«, daß sogar die Führung der Organisation vererbt wird. Vom ersten Präsidenten, Gardiner Greene Hubbard, auf seinen Schwiegersohn Alexander Graham Bell, den Erfinder des Telefons, von dem wiederum an seinen Schwiegersohn, den Lehrer Gilbert H. Grosvenor. Und wie es sich in einer Familie gehört, trat sein Sohn Melville Bell Grosvenor das Erbe auf den Amtssessel an. Heute steuert der dritte Grosvenor, Gilbert Melville, die Geschicke des multimedialen Massenclubs.

Und so wie eine Familie entwickelt sich auch das Magazin, langsam, beständig und in kleinen Schritten. So hieß es früher noch in den Redaktionsstatuten: »Es wird nichts gedruckt, was Partei ergreift oder umstritten ist. Über Länder und Leute wird nur Freundliches gedruckt.« Erst 75 Jahre danach brach Gilbert Melville Grosvenor damit. Im Januar Editorial 1978 definiert er ein neues Bekenntnis zur Objektivität, und damit hält die Realität behutsam Einzug ins Magazin. Dennoch packt man bis heute keine heißen Eisen an. Die Themen sind so ausgewogen, daß sie selbst eine behütete Pastorentochter aus der amerikanischen Provinz verdauen kann.

Aber über die 107 Jahre verkörpert National Geographic Magazine immer dasselbe: die Leidenschaft zum Entdecken. Ihre Reporter und Wissenschaftler bezwangen als erste den Mount Everest, brachen Höhenrekorde mit dem Stratosphärenballon »Explorer 2«, tauchten 8000 Meter tief in den Atlantik oder fuhren mit dem Binsenboot von Ägypten nach Südamerika. 1969 betraten die ersten Astronauten den Mond und steckten das Terrain ab mit der US–Fahne und der Trikolore der Society.

National Geographic war auch Vorreiter in der Fotografie. Zu einer Zeit, als Kritiker die neuen Lichtbilder noch als »vulgär« bezeichneten, veröffentlichte das Magazin 1905 erstmals elf Fotoseiten aus Lhasa. Trotz einiger Austritte von Wissenschaftlern, weil ihnen das Magazin als »Bilderbuch« nicht paßte, frohlockte 1915 eine Werbebroschüre der Gesellschaft: »National Geographic Magazine hat eine neue Universal-Sprache, die jeder verstehen kann, ohne studiert zu haben, es ist die Sprache der Fotografie.«

Und noch heute, in Zeiten der Bilderflut, glänzt das Magazin mit einer der international ausgeprägtesten Bildersprachen. Fotografen wie Sam Abell, William Albert Allard, Tom Abercrombie, James P. Blair, Sisse Brimberg, Jodi Cobb, Steve Mc Curry, Wilbur E. Garrett, James Nachtwey, Steve Raymer, Jim Stanfield oder Eric Vally haben ihre Spuren überall auf dem Erdball – und auf ihre persönlichen Weise im Magazin – hinterlassen: stimmungsvoll, packend, emotional, grafisch, erklärend oder poetisch.

So individuell wie die Fotografen sind auch Ihre Herangehensweisen. Louie Psihoyos reiste für eine Dinosaurierstory 250 000 Meilen mit 48 Gepäckstücken und einer Rolle schwarzen Hintergrundstoff, die ausgerollt so lang wie ein Fußballfeld war. Er arbeitet mit neun Kameras, 15 Optiken und einer 25 000–Watt–Blitzanlage. Dave Harvey´s Equipment ist wesentlich bescheidener. Mit zwei Kamerabodys und drei Optiken fotografiert er komplette Länderportraits, wie über Spanien oder Vietnam. Schwergewichts-Champion ist der Unterwasserfotograf Emory Kristoff, der mit 15 Tonnen Equipment im Wert von einer Million Dollar zum Baikalsee reiste. Mitgenommen wurde ein mobiles Farblabor, ein Dieselgenerator und zwei ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge – veröffentlicht wurden sechs Fotos.

Weltweit betreibt keine Zeitschrift Journalismus mit so hohem Aufwand und solcher Akribie wie das National Geographic Magazine. So gibt es zum Beispiel eine eigene Abteilung für Bildunterschriften, die die Captions der Fotografen zusammenstellt und überprüft. Um das Thema »Wolle« vorzubereiten, las Fotografin Cary Wolinsky 65 Bücher und kontaktete 160 Personen in elf Ländern. Weiß man trotz gründlicher Vorbereitung nicht genau, ob das Thema optisch umsetzbar ist, schickt man den Fotografen zwei Wochen vor Ort, nur um nach Motiven Aussschau zu halten. Die Produktionzeit eines Themas ist in der Regel allein für die Fotografie ein halbes Jahr. Dabei werden oft über tausend Filme belichtet.

Insgesamt lieferten im Jahr 1993 alle National Geographic Fotografen 46 769 Filmrollen ab – das sind 1 683 600 Dias . Veröffentlicht wurden im gleichen Jahr 1 408 Fotos, im Durchschnitt also etwa jedes Tausendzweihundertste. Doch das wird bei National Geographic Magazine niemandem vorgerechnet. Hier denkt man in anderen Dimensionen und Zeiträumen. So reagiert Frans Lanting, 43, für dieses Blatt typisch, auf die übliche Frage von Passanten: »Welche Blende, welche Zeit?« Er antwortet: »Die Belichtungszeit dieser Aufnahme beträgt 43 Jahre und eine dreißigstel Sekunde.«