Magazin #20

Bilder aus der Todeszone

Vor 18 Jahren ereignete sich die Havarie im Atomkraftwerk von Tschernobyl. Wie es heute in dieser verlassenen Welt aussieht, hat der Fotograf Robert Polidori dokumentiert.

Text – Johannes Taubert

Zunächst braucht man einen großen Tisch, um sich diesem Werk zu nähern. Klappt man das Buch auf, hat man quasi zwei Magazin-Doppelseiten ohne Bruch vor sich liegen. 76 Zentimeter breit. Was hier so wunderbar präsentiert wird, wirkt damit noch eindrucksvoller, als es ohnehin schon ist. Es ist ein Dokument des Untergangs einer Gegend, die der Mensch erst hoch industrialisiert hat und die nun für Jahrhunderte unbewohnbar geworden ist. Tschernobyl und Pripjat.

Auf einer Tafel im Klassenzimmer des Kindergartens »Goldener Schlüssel« in Pripjat steht mit Kreide geschrieben: »Eine Rückkehr gibt es nicht. Lebt wohl! Pripjat, 28. April 1986.« Es ist das Umschlagfoto des Buches. Zwei Tage nach der bislang größten Katastrophe des Atomzeitalters wurde dieser Satz an die Tafel geschrieben, bevor auch die letzten der 116.000 Menschen die beiden kontaminierten Städte verlassen mussten.

Was 15 Jahre danach der Fotograf Robert Polidori an diesem unwirtlichen Ort vorfand, hat er in sensationeller Form dokumentiert. Nur drei Tage hatte er Zeit, um den Zustand Tschernobyls ohne gesundheitliche Schäden fotografieren zu können. In Schutzkleidung mit Helm, Atemfilter und Dosimeter vermaßen Polidori und sein Assistent Konstantin Liefer Stück für Stück die Todeszone.

Das Ergebnis ist atemraubend. Die verblassten Farben und die desolate Verfassung dieser hoch technisierten Industrieruine hinterlässt nicht nur Bilder der Verwüstung, sondern auch Einblick in die Welt der ehemaligen Arbeiter und Bewohner. Verwaiste Kindergärten und Schulen, Kinderbetten und Spielzeug, das niemand mehr anfassen darf. Kühl fotografiert, mit dem Blick für Details kriecht aus jedem verlassenen Winkel, jedem abgelichteten Objekt die Geschichte des ehemaligen Lebens hervor. Plattenbauten, an denen die Natur frisst wie der Rost an den Lastwagen und Strommast-Skeletten. Aber auch verfallene Datschen und Wohnhäuser, manche schon fast versteckt hinter – trotz allem – wucherndem Grün.

Obwohl nirgendwo direkt der Tod fotografiert ist, bleibt er allgegenwärtig. Überall wird ehemaliges Leben und dessen Zerstörung sichtbar, ohne dass man Menschen sieht. Im Umkreis von zehn Kilometern um Tschernobyl darf niemand wohnen. Insgesamt 350.000 Menschen sind aus den verseuchten Gebieten umgesiedelt worden. Wie viele unmittelbar oder mittelbar an den Folgen des Reaktorbrandes gestorben oder erkrankt sind, ist unbekannt – es dürften zehntausende sein. Und das Unheil kennt noch lange kein Ende. Der Schutzmantel, der in aller Eile über dem Reaktor errichtet wurde, ist brüchig. Unter allem Schutt strahlen noch immer mehr als 200 Tonnen Uran aus dem Reaktorkern. Dazu eine Tonne radioaktives Plutonium.

»Hat irgendeine Generation das Recht, die Sicherheit so vieler künftiger Generationen aufs Spiel zu setzen? … Ich fühlte mich gedrängt, mich dieser andauernden Tragödie, die kein Ritual je heilen kann, zu stellen und sie zu bezeugen«, schreibt Robert Polidori in seinem Schlusswort. Das ist ihm eindrucksvoll gelungen.

Robert Polidori
geboren 1951 in Montreal, lebt in New York.
Ausstellungen u.a. in Paris, Brasilia, New York, Los Angeles und Minneapolis. Er publiziert regelmäßig im New Yorker sowie in Geo und im Architectual Digest Deutschland. Seine Arbeiten wurden u.a. mit einem World Press und zwei Alfred Eisenstaedt Awards prämiert.

Robert Polidori
Sperrzonen.
Pripjat und Tschernobyl

Mit einem Essay von Elizabeth Culbert.
Göttingen: Steidl Verlag 2004.
112 Seiten mit 180 Farbfotos.
38,5x30cm. 60 Euro

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Johannes Taubert
freier Autor, lebt in Hamburg.