Magazin #14

Dante visuell

Text – Kay Dohnke

Seit Jahren kennt die Weltöffentlichkeit James Nachtweys Bilder von den Brennpunkten der Kriege und Krisen. Inferno zeigt den Amerikaner von einer anderen Seite: Kämpfe, Panzer, Gewehre – davon ist in dem voluminösen, großformatigen Band kaum etwas zu sehen. Es geht nicht um die nachrichten- und damit medienbestimmende Action; im Mittelpunkt stehen jene namenlosen Menschen, die im Inferno irgendwie leben müssen ohne wirkliche Chance auf ein Überleben.

Das Inferno als Vorstufe zur Hölle: Nachtwey nimmt den Betrachter mit auf seine persönliche Reise durch die finstersten Winkel des letzten Jahrzehnts im 20. Jahrhundert. Die Ziele heißen Rumänien und Somalia, Indien, Sudan, Bosnien und Ruanda, Zaire, Tschetschenien und Kosovo. Man könnte auch »oder« schreiben, denn die Fotos von aidskranken Waisenkindern in Rumänien, von Unberührbaren aus Indien oder Verhungernden im Sudan drücken dasselbe aus: Das Leiden ist allgegenwärtig, ist ohne Anfang und hat kein Ende, es endet zugleich und beginnt überall von neuem. Wie in einer menschlich-gespenstischen Prozession reißt die Folge der Gesichter nicht ab, aus denen vereinzelt noch Trauer und Verzweiflung, zumeist aber nur noch Resignation und endlose Leere spricht.

In Inferno hat Nachtwey sich vom Zwang zu medial schnell verwertbaren Einzelfotos gelöst und zeigt längere Bildfolgen, die die Dimensionen des Geschehens ahnen lassen. Ihm gelingt, im Akt des Betrachtens den Vorgang des Betrachtens aufzuheben, seinen Bildern eine solche Unmittelbarkeit zu verleihen, dass Technik, Perspektive, Ausschnitt, Licht zwar wirken, aber nicht mehr bewusst werden. In jedem dieser großen, oft grobkörnigen Schwarzweiß-Fotos trifft der Blick auf eine persönliche Geschichte, deren Beginn längst vergessen ist und deren Klimax »Tod« heißt.

Wie ein Schutzschild trägt Nachtwey seine Kamera vor sich her, und zugleich muss er wie zwanghaft hindurchschauen. Und mit ihm die Betrachter seiner Bilder. Das Inferno hat Nachtwey zum Anti-Kriegs-Fotografen werden lassen, der sein programmatisches Wort »Was zählt, sind die Bilder« hier auf besondere Weise verwirklicht.

___
James Nachtwey: Inferno

480 Seiten.
London: Phaidon Press 1999.
(www.phaidon.co.uk)