Magazin #23

Der schlafende Riese

Mit seiner Kamera hat er Fotogeschichte geschrieben – und den Weg Deutschlands in die Moderne dokumentiert. Kaum ein Fotograf der Wirtschaftswunderzeit war so kreativ und vielfältig wie Heinrich Heidersberger. Am 10. Juni wird er 100 Jahre alt.

Text – Dirk Kirchberg

Vor den beiden großen Fenstern hüpfen Blaumeisen und Spatzen in den Zweigen der Sträucher umher. Sie picken kleine Reste aus den fast leeren Vogelfutternetzen. Heute ist der Himmel klar und hell, einige weiße Schäfchenwolken ziehen vorbei, die Luft ist mild und duftet nach Frühling.

Hinter den beiden großen Fenstern des zweigeschossigen Hauses in der Wolfsburger »Teppich-Siedlung« liegt ein Mann in einem Bett. Er scheint aus dem Fenster zu schauen. Sieht er die Vögel? Den Himmel? Die Wolken? Oder legt er den Kopf nur auf die Seite in Richtung Fensterscheibe, weil es dort hell ist?

Der Mann ist Heinrich Heidersberger: Fotograf, Tüftler, Erfinder, Reisender, Journalist, Künstler. Er war in den 50er und 60er Jahren einer der wichtigsten Architektur- und Industriefotografen in Deutschland. Am 10. Juni wird er 100 Jahre alt. Warum aber kennt ihn kaum jemand, warum erinnern sich nur wenige an ihn? Weil die Zeit ihn vergessen zu haben scheint, so wie er sie jetzt immer häufiger vergisst. Dennoch trägt er eine Armbanduhr. Darauf legt er Wert.

Seit zwei Jahren ist Heidersberger pflegebedürftig. Er ist nicht krank, er ist einfach nur alt. Er hat gute und schlechte Tage. An guten Tagen erkennt er die Gesichter der Menschen, die sich um ihn und sein Werk kümmern. Manchmal kann er verständlich sprechen. An schlechten Tagen ist ihm jeder Mensch ein Fremder, und er kann kaum ein Wort artikulieren.

Heute ist kein ganz schlechter Tag. Seine Augen schweifen durch den Raum, bleiben an keinem Gegenstand lange haften. Nicht am Spiegel und den beiden Bildchen des verstorbenen und des neuen Papstes, die seine Pflegerin Eva hinter die Einfassung geklemmt hat. Nicht am Bild des dänischen Prinzenpaares, das an Heidersbergers Zeit in Kopenhagen erinnert, und nicht an einem seiner berühmtesten Fotos aus der Serie »Schneesternchen«, das an der Wand neben dem Bett hängt.

Dann jedoch wird man selbst von seinem Blick erfasst, der eben noch fahrig durch den Raum geisterte, er schaut einem direkt in die Augen und fragt deutlich: »Woher kommst du?« »Aus Hannover, Herr Heidersberger.« Er sieht einen noch drei, vier Sekunden an. Dann geht sein Blick wieder auf die Reise.

Einer dieser Menschen, die sich um Heinrich Heidersberger kümmern, ist Bernd Rodrian. Rodrian, selbst Fotograf, arbeitet seit 2000 an der Erhaltung des Heidersbergerschen Werks und leitet seit 2002 das Institut, das auf Initiative von Heinrich Heidersbergers jüngstem Sohn Benjamin gegründet wurde.

Das Institut soll weit mehr als nur ein Archiv sein. Es soll eine Werkstatt im wahrsten Sinne des Wortes bleiben. Künstler der Gegenwart sollen sich an Heidersbergers Arbeiten reiben, abarbeiten und so ihr eigenes Werk und das von Heidersberger erweitern. Erste Ausstellungsprojekte haben bereits bewiesen, wie reichhaltig eine solche Auseinandersetzung sein kann. Weitere werden im Jubiläumsjahr unter dem Motto Heidersberger 100 folgen.

Im Wolfsburger Schloss, in dessen Räumen Heidersberger seit den 60er Jahren sein Atelier hat und in dem heute das Institut untergebracht ist, lagern im Klimaraum bei konstanten 20 Grad Celsius und 40 Prozent Luftfeuchtigkeit neben 20.000 Abzügen 75.000 Negative und neuerdings auch 10.000 Digitalfotos. Hier lagert Heidersbergers fotografisches Gedächtnis.

Sein eigenes Gedächtnis hält heute kaum noch etwas fest. Noch vor drei Jahren lebte er allein in einem Haus mit unzähligen Kakteen und Orchideen, die er so liebt und für die er vor Jahrzehnten ein vollautomatisiertes Gewächshaus erdacht und errichtet hat. Trotz seines hohen Alters und eines Körpers, der nicht mehr recht gehorchen wollte, fuhr er auf einem feuerroten Elektroroller sitzend umher und fotografierte mit einer Digitalkamera, was ihn bildnerisch interessierte. Eine Woche später allerdings machte er an fast genau denselben Orten noch einmal Fotos, weil er vergessen hatte, dass er dort vor sieben Tagen bereits auf den Auslöser gedrückt hatte. Nur an die 20er Jahre kann sich Heinrich Heidersberger an guten Tagen erinnern. Während eines der vielen langen Gespräche mit Bernd Rodrian sagte er einmal: »Sie wissen ja mehr über mein Leben als ich selbst.«

Die 20er Jahre wurden die prägendste Zeit seines Lebens. Nach einem Aufenthalt in Graz, wo er nur kurz ins Studium der Architektur reinschnuppert, geht der gebürtige Ingolstädter 1928 nach Paris, wo er Piet Mondrian trifft und Malerei bei Fernand Léger studiert. Léger, stark vom Kubisten Picasso beeinflusst, hatte während des Studiums selbst in einem Architekturbüro und als Retuscheur gearbeitet.

Heidersberger legt Pinsel und Bleistift beiseite und greift zur Fotokamera, die ihm sein dänischer Pflegevater geschenkt hatte. Er entdeckt, dass sie das perfekte Werkzeug für eine Mischung aus technischer Präzision und künstlerischer Freiheit ist – eine Mischung, mit der Man Ray gerade für Furore sorgt (später lichtet Heidersberger Fahrradfahrer als surreale Schattenrisse ab, das Bild wird in der angesehenen Kunstzeitschrift Arts et métiers graphiques gedruckt). Er lernt Vertreter der Moderne in den Cafés von Paris kennen, wie etwa die Schriftsteller Henry Miller und Ernest Hemingway. Von Letzterem leiht sich Heidersberger Geld, rund 600 Franc, als er völlig pleite ist. Hemingway sollte das Darlehen nie zurückfordern. Er konnte sich wahrscheinlich nur zu gut daran erinnern, wie es ist, keinen einzigen Franc in der Tasche zu haben. Immerhin hatte Hemingway oft genug nur durch die selbstlose Hilfe von Freunden im Paris der »verlorenen Generation« überlebt.

Nach Aufenthalten in Den Haag und Kopenhagen kehrt Heidersberger nach Deutschland zurück und fotografiert 1937/38 für den Architekten Herbert Rimpl die Heinkel-Flugzeugwerke in Oranienburg. Die Bilder erscheinen unter dem Titel Ein deutsches Flugzeugwerk als Buch. Die Begründer der »Braunschweiger Schule« – die Architekten Friedrich Wilhelm Kraemer, Dieter Oesterlen und Walter Henn – engagieren den nimmermüden und detailverliebten Fotografen, der nicht selten tagelang auf das richtige Licht für seine Aufnahmen wartet. So entstehen umfangreiche Serien über die Stahlwerke Salzgitter und Braunschweig. Auch wenn Heidersberger alles zu kontrollieren versucht, kommt es oft genug vor, dass er die Fotos in der Dunkelkammer noch »veredelt«, weil irgendein Detail doch nicht perfekt sitzt. Bernd Rodrian hat mittlerweile ein »Wolken-Archiv« gefunden, aus dem Heidersberger je nach Bedarf Wolkenkonstellationen in Fotos retuschierte, um diese zu verdichten.

Auch andere unbekannte Arbeiten hat Bernd Rodrian freigelegt. Seine Tätigkeit erinnert nicht selten an die eines Archäologen, der sich durch verschiedenste Schichten gräbt. Er fand Bilder, die belegen, dass Heidersberger auch als Fotojournalist erfolgreich war. 1936, in Spanien tobt gerade der Bürgerkrieg, arbeitet Heidersberger für Ullstein und veröffentlicht naturwissenschaftliche Reportagen. Später lernt er Henri Nannen kennen und stößt als Fotograf zum Stern, als dieser aus gerade mal vier bis fünf Mitarbeitern besteht und in Hannover in einer Ruine haust. Für das Magazin hüllt er 1949 nackte Damen in Licht und Schatten und erregt Aufmerksamkeit mit seinem »Kleid aus Licht«, wie Nannen die Serie betitelt.

Eine seiner bemerkenswertesten Reportagen für den Stern, die auch heute noch Diskussionen hervorrufen dürfte, behandelt die Flucht eines DDR-Zirkusses über die grüne Zonengrenze. Das Unterfangen war längst geglückt, aber durch keinen Fotografen dokumentiert worden. Dieser Umstand hindert Heidersberger nicht daran, eine dramaturgisch dichte Reportage zu komponieren – kurzerhand scheucht er Elefanten und Zirkusdarsteller durch den Harz, lässt sie hinter Bäumen lauern, über Felder streifen, erschafft ihre Flucht neu. Nicht überliefert ist, ob die nachgestellte Flucht als solche gekennzeichnet oder als »Dokumentation« verkauft wurde. Eine Diskussion über die verschwommene Grenze zwischen Journalismus und Kunst fand damals anscheinend nicht statt. Dafür wird sie heute umso heftiger geführt zwischen Puristen und Traditionalisten auf der einen und Kritikern des Wahrhaftigen auf der anderen Seite.

Das Schloss Wolfsburg, das ihm die Stadtväter 1961 als Atelier zur Verfügung stellten, wird Werkstatt des Bastlers und Erfinders und Dunkelkammer des Alchimisten Heidersberger. Das Schloss ist erheblich komfortabler als die Kombüse der MS Atlantic, auf der er 1954 von New York nach Kuba als Fotograf mitreiste. Den Passagieren verkaufte er damals Bilder, die er tags zuvor von ihnen gemacht hatte. Die Diafilme wurden über Nacht in der Kombüse entwickelt und abgezogen.

Auf dem Schloss konstruiert Heidersberger neue Stative und nimmt bauliche Veränderungen an Kameras vor. Ein Mikroskop baut er so um, dass er eine Mittelformatkamera anschließen kann. Dann stellt er seine Utensilien in einer frostigen Nacht im Schlosshof auf und fischt mit Objektträgern Schneekristalle aus der Luft, die er schnellstmöglich fotografieren muss. Kristalle sind sehr vergängliche Modelle, selbst in einer klirrenden Winternacht. So entstehen seine »Schneesternchen«.

Auch ein mechanisches Monster namens »Rhythmograph«, das den Großteil seines Ateliers in Beschlag nimmt, baut er im Schloss. Mit dieser selbst erdachten Konstruktion kreiert er »Rhythmogramme«. An Pendeln schwingende Lichtquellen zaubern Wellen und Ellipsen, Linien und Strukturen aufs Papier. Mit einem dieser Bilder gewinnt Heidersberger 1957 auf der 11. Mailänder Triennale eine Silbermedaille.

Und eines dieser Bilder will Cocteau Picasso schenken. Ob der es jemals erhalten hat, bleibt ein Geheimnis. Es wäre aber keine Überraschung, wenn Cocteau das Foto nicht verschenkt hätte, denn er war aufs Tiefste beeindruckt vom Künstler Heidersberger und schrieb in einem Dankesbrief: »Die bewundernswerten Rhythmogramme von Heidersberger sind ein Beweis dafür, dass der Zufall für die Poeten nicht existiert, oder besser, dass sie ihm einen anderen Namen geben.« Und weiter: »Ich möchte das Oeuvre Heidersberger mit der Auflehnung eines Insekts oder einer Blume vergleichen, die es müde sind, sich den Gesetzen ihrer Gattung zu beugen. Bewundern wir, auch wenn wir nicht begreifen! Nur so können wir der Düsternis des kartesischen Weltbilds entrinnen.«

Heidersberger hat gemalt, fotografiert, experimentiert, sich niemals Regeln unterworfen. Er war – und ist – ein Freigeist, ein Moderner. Bernhard von Chartres schrieb vor rund 1000 Jahren: »Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Wir können weiter sehen als unsere Ahnen, und in dem Maß ist unser Wissen größer als das ihrige, und doch wären wir nichts, würde uns die Summe ihres Wissens nicht den Weg weisen.«

Bernd Rodrian ordnet im Schloss die Vergangenheit und schaut zuversichtlich in die Zukunft. Das Institut soll kein reines Archiv (»Das wäre zu staubig«), aber auch kein Museum sein (»Das wäre zu viel Pathos«). Auch hier ist eine Mischung wohl das beste Rezept für die zukünftige Arbeit an und mit der Kunst.

Heinrich Heidersberger liegt in seinem Bett und ist eingenickt. Über den blauen Himmel ziehen die weißen Schäfchenwolken. In den Zweigen der Sträucher vor dem Fenster hüpfen die Blaumeisen und Spatzen umher und ahnen nicht, dass hinter der Scheibe ein Riese schlummert.

PUBLIKATIONEN:

Herbert Rimpl, Ein deutsches Flugzeugwerk.
Berlin: Wiking-Verlag 1938.

Braunschweig.
Braunschweig: Gersbach 1956.

Wolfsburg. Bilder einer jungen Stadt.
München: Bruckmann 1963.

Architekturphotographie 1952–1972.
Göttingen: Steidl 2000.

www.heidersberger.de

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Dirk Kirchberg
Studium der Anglistik und Germanistik, derzeit Studium Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Fotografie an der FH Hannover. Freier Autor, nebenbei Fotograf und Konzepter.