Magazin #18

Die Anstifter

Während sich die westliche Welt der digitalen Fotografie zuwendet, arbeiten Kollegen in vielen anderen Ländern noch mit einfachster Technik. Ein Bericht aus Vietnam.

Text – Horst Faas

Mitten im Zentrum von Ho Chi Minh City und direkt gegenüber einer großen Statue von Ho Chi Minh liegt das Hotel Rex. Als die Stadt noch Saigon hieß, war es Sitz der US-Militärpressestelle, wo die täglichen Journalisten-Briefings stattfanden. Im Januar 2002 kamen hier auf Einladung der Indochina Media Memorial Foundation (IMMF) erneut Journalisten zusammen – vietnamesische Fotografen, die an einem internationalen Workshop Photojournalism – Past, Present & Future teilnahmen und die seltene Gelegenheit nutzten, erfahrene westliche Kollegen zu treffen und von ihnen zu lernen.

NACHWIRKEN DER GESCHICHTE

Die Erfahrung des Vietnam-Krieges hat eine ganze Generation von Fotojournalis­ten geprägt. Diejenigen, die damals aus Saigon berichtet haben und noch am Leben sind, beenden ihre Karrieren im Abglanz einer Zeit, die oft zum Höhepunkt ihrer Laufbahnen gehörte, oder haben sich bereits zur Ruhe gesetzt. Die Fotografen-Soldaten der kommunistischen Seite sind endlich aus dem Schatten getreten. Ihre Toten wurden in Ausstellungen und Büchern gewürdigt, und die Überlebenden können inzwischen über ihre Erfahrungen sprechen.

Ho Chi Minh City wurde nun zum Ort der Auseinandersetzung mit moderner Fotografie. Der britische Fotograf und Autor Tim Page hatte die IMMF 1991 gegründet, um an das Leben und Sterben von fast 200 Medienkollegen aus vielen Ländern zu erinnern, die zwischen 1945 und 1975 während ihrer Berichterstattung über die Kriege in Vietnam, Kambodscha und Laos getötet wurden oder vermisst sind. Für die an der IMMF beteiligten Journalisten hat die Erinnerung an die verlorenen Kollegen zu dem Bedürfnis geführt, die Entwicklung einer qualitativ hochwertigen journalistischen Praxis in jener Region zu unterstützen, in der sich diese Phase der Geschichte abspielte – ein Bedürfnis, wieder etwas in jenes Land hineinzutragen, das für ihre persönlichen Karrieren so wichtig war.

Zu den Tutoren gehörten der Amerikaner James Nachtwey, früher Mitglied von Magnum, der heute mit der Agentur VII arbeitet, der ebenfalls zu VII gehörende Brite Gary Knight, Elisabeth Gallin, ehemalige Bildredakteurin von Newsweek im Ruhestand, der britische Freelancer Tim Page aus Kent, der für die Associated Press in Jakarta tätige Amerikaner Charles Dharapak und ich als Senior European Photo Editor von AP in London.

Für viele von uns ist unsere Arbeit untrennbar mit der Erfahrung des Indochina-Krieges verbunden. Tim Page und ich hatten während des Krieges in Vietnam gearbeitet, Page von 1965 bis 1969, ich von 1962 bis 1974. James Nachtwey erzählte den Workshopteilnehmern während einer seiner Präsentationen, dass die Fotos vom Vietnam-Krieg, die er als Teenager sah – darunter vor allem Nick Uts 1972 entstandene Aufnahme von dem napalmverbrannten Kind, das die Straße entlangläuft –, ihn dazu inspiriert hätten, jener Bildjournalist zu werden, der er heute ist – ein Nachrichtenfotograf, der seit zwanzig Jahren Kriege und menschliche Tragödien dokumentiert.

ALLTAG UND ABSURDITÄTEN

27 Fotografen nahmen am Workshop teil, darunter sieben Frauen, und alle gehörten zur Altersgruppe um 30 Jahre. Sie vertraten Printmedien aus dem ganzen Land, darunter die Saigon Times, die Vietnam Economic Times, die Vietnam Investment Review, das Ho Chi Minh City Women’s Magazine, die Vietnam News Agency und verschiedene regionaler Blätter. Außerdem waren vier Freelancer dabei – eine seltene Spezies in diesem Land. Bereits bei der Vorauswahl der Teilnehmer hatten die Behörden gegen freie Fotografen votiert, und vier der Kandidaten wurden durch angestellte Fotografen von Blättern ersetzt, die von der Regierung kontrolliert werden. »Sie sind zu frei«, lautete der Kommentar eines Behördenvertreters.

Die Teilnehmer bildeten fünf Gruppen, die während des gesamten Workshops jeweils vom selben Tutor betreut wurden. Jeden Tag arbeiteten sie draußen in den Straßen und lernten, mit Perspektiven zu experimentieren, die passenden Objektive auszuwählen und das richtige Bild zu finden, das eine Geschichte erzählt. Sie wurden auch dazu ermutigt, offensiv gegen ihre Scheu anzugehen, mit den Funktionären in Konflikt zu geraten, obwohl jeder das als legitime Sorge in diesem kommunistischen Ein-Parteien-Land anerkannte.

Ursprünglich sollte der Workshop Nachrichten und aktuelle Ereignisse in Ho Chi Minh City in einer Reihe von Foto-Essays dokumentieren. Doch obwohl eine breite Palette an Zeitungen, unzählige Magazine und die Berichte der Vietnam News Agency via Internet zur Verfügung standen, erwies es sich als unmöglich, eine Übersicht über kommende Ereignisse zu gewinnen. Alle Nachrichten scheinen Staatsgeheimnis zu sein – und obwohl sie zu den Mitveranstaltern des Workshops gehörte, weigerte sich die Vietnam News Agency, ihre täglichen Veranstaltungslisten zugänglich zu machen, und seien es auch nur Fußballspiele, Amtseinführungen oder Pressekonferenzen.

Vietnam ist nach wie vor ein Land, in dem man zwar mittels Internet oder internationalen Nachrichten alles über das Leben draußen in der Welt herausfinden kann, aber kaum etwas über das, was um einen herum vor sich geht. Nichts wird zur Nachricht, nichts wird in Wort und Bild dokumentiert, von dem die Autoritäten nicht beschlossen haben, dass die Menschen in Vietnam etwas darüber erfahren sollen. Der Mangel an uneingeschränkten Informationen ist eine drastische Erinnerung daran, dass Vietnam noch immer eines der wenigen Länder ist, die von einer kommunistischen Partei regiert werden. »Der einzige Weg, hier ein Foto zu veröffentlichen, besteht darin, so viele Funktionäre wie möglich drauf zu haben«, meinte ein vietnamesischer Kollege.

TECHNISCHES NEULAND

Ungeachtet dieser Einschränkungen begann der Workshop unter der Leitung von Elizabeth Gallin, Acht Tage in Ho Chi Minh City zu dokumentieren, wozu alle etwas beitrugen. Am Ende sollten eine Ausstellung der 50 besten Fotos und ein 84-seitiges digitales Fotoalbum stehen. Gleich zu Beginn der Arbeit wurde klar, dass die Vermittlung von Grundlagen der Fototechnik ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit sein musste. Vietnamesische Fotografen arbeiten noch immer fast ausschließlich mit Filmen und Prints; nur wenige benutzen einfache Digitalkameras. Ein einziger der 27 Workshop-Teilnehmer hatte seinen eigenen Laptop; die meisten nutzen Cybercafés als Zugang zum Internet. Canon, Epson und The Associated Press hatten neun Digitalkameras, Desktop-Computer und sechs Laptops zur Verfügung gestellt – für die vietnamesischen Kollegen die erste Chance, Digitalfotografie kennen zu lernen, und sie waren begeistert. Fast alle Arbeitsresultate zeigten deutliche Fortschritte; am Ende der Woche waren etwa 14.500 Bilder auf Kodak-400-Film belichtet sowie gut zehntausend Aufnahmen digital gespeichert.

Viele der Teilnehmer hatten auch noch nie mit langen Brennweiten oder Zoom-Objektiven gearbeitet – professionelle Ausrüstung ist in Vietnam noch immer ein Luxus weit jenseits der finanziellen Möglichkeiten von Fotografen und Redaktionen. Während ihrer täglichen Arbeit fotografieren die Teilnehmer zumeist einfach frontal drauflos, ohne ungewöhnliche Winkel oder die Überlegung, das Motiv auf neue, andere Weise zu sehen. Die Chefredakteure wollen es nicht anders haben. Während des Workshops wurden die Fotografen aufgefordert, einen faszinierenden Bildaufbau zu schaffen, ihr Motiv aus wechselnden Winkeln zu betrachten und die Lichtverhältnisse für sich auszunutzen.

KOLLISIONEN IM REALEN

Uns Tutoren wurde schnell klar, was die Teilnehmer bislang in ihrem Berufsalltag erlebt hatten: Das große Hemmnis bei der Entwicklung einer eigenen Bildsprache war die Sorge, mit den Empfindlichkeiten des politischen Establishments in Konflikt zu kommen. Sogar ein Routinejob erfordert ein ganzes Bündel oYzieller Genehmigungen, und das Fotografieren von jedweden sensiblen Motiven sogar draußen auf der Straße ist verboten oder wird sofort von den omnipräsenten Augen und Ohren der Regierung wahrgenommen. Einmal schauten Mitglieder des »Interministeriellen Inspektionsteams 844 TP« die während des Workshops entstandenen Bilder durch, darunter Aufnahmen über die wachsende Prostitution in Ho Chi Minh City und vom Handel mit jungen Prostituierten zwischen Kambodscha und Vietnam, und auf nachdrückliches Anraten wurden sie aus dem Gesamtmaterial entfernt. Die vietnamesischen Fotografen argumentierten nicht mit den Repräsentanten des politischen Establishments, beschwerten sich nicht. Aber eifrig umgingen sie alle Problembereiche und hielten sich von der Politik fern – mit verblüffenden Ergebnissen.

Die jungen Kollegen fühlten sich deutlich wohler, wenn sie mit ihrem Tutor in kleinen Gruppen am Computer oder vor einem Haufen Kontaktabzüge saßen, und auch die Übersetzer waren entspannter und offener, wenn niemand außer den Mitgliedern der Gruppe zuhören konnte. Viele machten sich eifrig Notizen darüber, was die Tutoren zu sagen hatten. »Denkt mit dem Kopf, aber macht die Bilder mit dem Herzen. Und geht immer mit eurem Objekt mit«, hatte Fotograf Bui Buu Ha während James Nachtweys Beschreibung der eigenen Arbeitsweise notiert. Bui hatte die schwierige Aufgabe, ein Bildessay über geistig behinderte Kinder zu erarbeiten – am Ende ähnelten seine Fotos denen von Nachtwey.

GESCHICHTE UND TECHNIK IM ZEITRAFFER

Abendliche Präsentationen der Tutoren ergänzten das Programm. Vor vollem Haus zeigte James Nachtwey sein Portfolio mit Beispielen seiner 20-jährigen Arbeit in Kriegs- und Krisenregionen. Charles Dharapak gab mehrere Einführungen in den Gebrauch von digitaler Ausrüstung und Photoshop. Gary Knight erläuterte, wie Websites und das Internet im heutigen Fotojournalismus als Werkzeuge genutzt werden können. Ich selbst präsentierte den jungen Kollegen eine Tour d’Horizon der Geschichte des Fotojournalismus und der Verwendung von Fotos in Magazinen. An einem anderen Abend zeigte ich in schneller Folge Nachrichtenbilder aus den letzten einhundert Jahren, die im Westen bekannte historische Ikonen sind, aber den faszinierten Vietnamesen zumeist unbekannt waren.

Tim Page, der viel Zeit auf die Erforschung der Fotografen der »anderen Seite« – des kommunistischen Vietnam – verwendet hat, stellte Doan Cong Tinh vor. Der 1943 geborene Fotograf ist einer der wenigen überlebenden Soldaten-Fotografen des Vietnam-Krieges. Beide zeigten Arbeiten aus jener Zeit und sprachen von den Erfahrungen des Krieges. Doch im jungen Publikum gab es skeptische Stimmen. »Ich weiß sehr gut, wie viele der Bilder auf Befehl der Kommissare gestellt werden mussten«, meinte ein Zuhörer.

Nur dieses eine Mal wurde der Krieg zum Gegenstand der Diskussion. Schon vor dem ersten Treffen der Tutoren mit ihren jungen Kollegen war entschieden worden, den Krieg und die eigenen Erfahrungen nicht zu erwähnen – und die Vietnamesen fragten nicht danach. In den letzten Kriegsjahren oder später geboren, bezogen sich ihre in den Diskussionen und persönlichen Gesprächen gestellten Fragen hauptsächlich darauf, wie man heute im Beruf besser vorankommen und morgen ein besseres Leben führen können.

Es war eine große Befriedigung zu sehen, wie Fotografen, die vorher meist langweilige und einfallslose Bilder produziert hatten, binnen weniger Tage die Anregungen des Workshops aufgriffen und mit attraktiven, bedeutsamen Bildern zurückkamen. Während des Krieges waren einige der besten und aggressivsten, zugleich aber auch sensibelsten Fotografen Vietnamesen, und jetzt konnte man so manches Talent unter den jungen Kollegen entdecken. »Wir haben hier zweifellos ein Feuer entfacht, und die Teilnehmer waren einfach großartig«, meinte James Nachtwey am Ende des Workshops.

FINALE À LA KAFKA

Der letzte Tag und zugleich die Abschlussveranstaltung des Workshops en­dete in Verwirrung und mit der Absurdität eines Kafka-Romans. Es war geplant, die 50 besten Fotos der Woche zu präsentieren, das Layout des 84-seitigen Magazins zu diskutieren, in dem noch die Texte und Bildunterschriften fehlten, und dann ein paar Auszeichnungen zu vergeben, zumeist Bücher über Fotografie.

Das »Interministerielle Inspektionsteam 844 TP« hatte sich bereits gegen mehrere Fotos ausgesprochen, darunter Aufnahmen eines Bettlers, eines alten Mannes auf einem Hausboot und ein paar weitere Bilder, bei denen die Gründe unerfindlich blieben. Sie wurden zurückgezogen. Mehrere Tage lang hatte der IMMF-Vorsitzende Len Aldis mit den Behörden verhandelt – bis sich herausstellte, dass die Mitorganisatoren des Workshops, die Vietnam Association of Photographic Artists in Vietnam und die Vietnam News Agency, es versäumt hatten, eine Genehmigung für die Ausstellung beim Kulturministerium einzuholen.

Die verbliebenen 47 Fotos hingen an der Wand, ein Buffet war aufgebaut worden, und einige noch verkorkte Weinflaschen standen bereit. Ein obligatorisches Band hielt das wartende Publikum im Korridor zurück. Noch keine Nachricht vom Ministerium. Einige der Studenten überreichten den Tutoren Geschenke, und Nguyen Hoai Linh, ältester und einer der talentiertesten Workshop-Teilnehmer, hielt eine bewegende Dankesrede. Mit einem Augenzwinkern für die Tutoren schloss er mit den Worten: »Lasst uns nicht vergessen, dass es der große Lenin war, der sagte ‚Die Wahrheit ist die Macht des Journalismus‘.« Der Name Lenin veranlasste Funktionäre wie Fotografen zu donnerndem Applaus. Später versicherte der Redner seinem Tutor, dass dieses Wort tatsächlich von Lenin stammt.

Doch die Ausstellung blieb oYziell geschlossen. Während der Reden war ein Dokument des Kulturministeriums eingetroffen, in dem es hieß: »Die Ausstellung von Fotografien im Hotel Rex hat keine Zulassung von den verantwortlichen Stellen und hat nicht die vorgeschriebene Inspektion durch die zuständigen Stellen passiert. Nach Anhörung des Berichtes der Organisatoren hat das Interministerielle Inspektionsteam 844 TP entschieden, die Ausstellung zu suspendieren. Etc.« Nach dieser Verlautbarung verließen die Funktionäre die Veranstaltung. Die vietnamesischen Fotografen nahmen ihre Bilder herunter und lehnten sie nebeneinander an die Wände. Ein Fotograf ging an den Computer und projizierte das Workshop-Magazin, ein anderer malte ein Schild »Geschlossene Gesellschaft« und hängte es im Flur auf. Die Tutoren schauten staunend von der Tür aus zu, wie die Vietnamesen sich des Fußbodens bemächtigten.

Als sich Tabletts und Flaschen leerten, gingen viele in eine nahegelegene Bar, und es wurde eine lange Nacht. Viele tauschten mit den Tutoren ihre E-Mail-Adressen aus, und letztere haben seither fleißig Mails mit Fragen und der Bitte um Ratschläge beantwortet.

Ein Fotograf ging noch einen Schritt weiter. In Brian Hortons Buch Introduction to Photojournalism fand er ein Zitat des Mediengrafikers Bob Lynn: »Ein junger Mensch sollte nur aus dem Herzen und dem Gefühl heraus fotografieren und die Bilder machen, die er mag. Wenn man für eine Zeitung arbeitet, die das nicht schätzt, muss man zu einer Zeitung wechseln, die das mag.« Der Fotograf – dessen Name hier aus Schutzgründen ungenannt bleibt – fügte hinzu: »Der Lokalzeitung, für die ich arbeite, gefällt es gar nicht, wenn ich das umzusetzen versuche, was ich auf dem IMMF-Workshop gelernt habe. Ich überlege, meinen Job zu kündigen und frei oder für andere Medienagenturen zu arbeiten.« Sein Tutor wünscht ihm dafür alles Gute.

Der erste internationale Fotojournalismus-Workshop wurde von der Indochina Media Memorial Foundation (IMMF) in Zusammenarbeit mit der Vietnam Association of Photographic Artists und der Vietnam News Agency organisiert. Das Budget speiste sich u.a. aus den Erlösen der Auktion Images for Indochina mit berühmten Fotos aus dem Indochina-Krieg, die von über 100 Fotografen und Agenturen zur Verfügung gestellt und am 26. April 2001 in London versteigert wurden. Außerdem unterstützten internationale Unternehmen die Aktion.

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Horst Faas
ist Senior European Photo Editor bei AP in London. Zusammen mit Tim Page gab er das Buch Requiem by the Photographers Who Died in Vietnam and Indochina heraus (London 1997; vgl. FREELENS magazin # 11, S. 19)