Magazin #16

Ein Buch als Ort. Fotografie als Musik

Über mehrere Jahre hat André Lützen in der Musikszene von Marseille und Dakar fotografiert. Ergebnis: das Buch und die Ausstellung Generation Boul Fale.

Text – Andreas Herzau

Schwarz. Das Buch liegt in der rechten Hand, die linke lässt die Seiten vorbeirauschen. Bilder. Texte. Weiß. Farbe. Schwarz. Es steigt einem in die Nase, denn nur die Nacht braucht so viel Farbe beim Drucken, damit es auch wirklich dunkel wird. Links. Rechts. Einszwei einszwei. Drei. Viele. Die Bilder fliegen. Dakar. Marseille. Marseille. Dakar. Hinundher, vorundzurück. Hiphop. Die linke Hand führt den Regler, die rechte schwebt über dem Vinyl. Der Oberkörper wippt. Hinundher, vorundzurück. Hiphop!

Marseille. Dakar. Die Fotografien von André Lützen sind dort entstanden, aber Lützen hat mit seinem Buch Generation Boul Fale einen imaginären Ort geschaffen: einen Platz für Musik. Ein Buch als Ort. Fotografie als Musik. Das sind hohe Ziele, die nur verwirklicht werden konnten, indem sich Lützen von den herkömmlichen Seh- und Denkschablonen im fotografischen Diskurs löste. Während mehrerer Aufenthalte in Marseille und Dakar sammelte er seine Bilder über die Rapper-Szene und montierte sie zu einer Bildstrecke, die auf den ersten Blick sperrig wirkt und nicht um die Gunst des Betrachters buhlt. Lützen will nicht gefallen. Er will verstanden werden, daher fordert er uns auf, seine Bilder anzusehen.

Schwarz. Weiß. Links. Rechts. Die Grundlinie erscheint deutlich. Der Oberkörper wippt. Er verschwindet in der Bewegung, und nur die Finger sind noch auf der Tastatur zu erkennen. Schwarz. Weiß. Von rechts greift die Hand ein Teeglas. Der Oberkörper wippt. Schwarz zeichnet er sich gegen den violetten Nachthimmel ab. Die Bilder fliegen. Der Tee stürzt aus der Höhe ins Glas. Bilder. Hiphop. Es gibt in diesem Buch nicht das Bild zu sehen. Es entsteht nur im Kopf, aus der Addition vieler einzelner Bilder, vieler einzelner Erinnerungsstücke. André Lützen hat sie für uns zusammenmontiert, hat seinen Beat entwickelt; auf dieser Grundlinie tänzelt er dahin, führt uns sein Kunststück vor. Dakar. Marseille. Einszwei, einszwei.

Hinundher. Vorundzurück. Lützen hat viel Zeit mit diesem Projekt verbracht. Die Bilder wurden geschoben, gescratcht, beschnitten, geschnitten und zubelichtet. Alles, aber auch alles, was nur den leisesten Anschein von Reportage erwecken könnte, wurde den Bildern ausgetrieben. Nichts soll so aussehen, wie es ist. Es soll so wirken, wie Lützen es meint, dass wir es sehen sollen oder können. Der Fotograf will nicht, dass man meinen könnte, dies, was wir sehen, sei Realität. Um das zu erreichen, braucht es Zeit und viel Selbstüberwindung. Für den Fotografen allemal, aber eben auch für den Betrachter und die Betrachterin.

Dieses Buch will gelesen werden, es reicht nicht, mal hineinzuschauen. Wer nur guckt, dem bleibt es verschlossen. Wer sich die Mühe macht zu lesen, zu blättern, zu riechen, der wird eintauchen in jenes Schwarz, das die Sinne schärft für das wenige Weiß. Was das Auge erst nur als kryptische Zeichen erkennt, wird nun mehr und mehr dechiffriert und ergibt plötzlich Sinn. Wir haben den Rhythmus erfasst. Der Oberkörper wippt. Hinundher. Vorundzurück. Und nochmal.

Schwarz. Das Buch liegt in der rechten Hand, die linke lässt die Seiten vorbei­rauschen. Bilder. Texte. Weiß. Farbe. Ein Buch selbst zu machen – und das hat Lützen getan –, ist eine Prüfung. Man testet sich selbst, seine Arbeit, sein Urteilsvermögen und vor allem, ob man das Ziel, mit dem man gestartet ist, erreicht hat.

Hat er. Die Reportage ist tot. Es lebe die Fotografie. Vorundzurück. Marseille. Dakar. Lützen.

André Lützen
Generation Boul Fale.
Heidelberg: Verlag »Das Wunderhorn « 2001.
128 Seiten.

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Andreas Herzau
Typograph, Politikredakteur, seit 1990 freier Fotograf in Hamburg. Gründungsmitglied der Fotografengruppe signum (1991–1999). 1999–2001 Lehrbeauftragter für Fotografie an der FH Bielefeld. Mitglied der Agentur Laif.