Magazin #27

Eine Zeitung kommt in Bewegung

Für die Rocky Mountain News aus Denver war es der erste Schritt in ein neues Zeitalter. Ihre Serie »The Crossing« markiert den Übergang von einem klassischen Tageszeitungsverlag zum Multimedia-Unternehmen – als Reaktion auf die Zeitungskrise in den USA.

Text – Uwe H. Martin
Fotos – Silvia Razgova

Dunkel und bedrohlich stehen die Wolken am Himmel. Die Schienen führen ins Nirgendwo. Es ist ein Unfallort, den das ganzseitige Aufmacherfoto zeigt. »Am 14. Dezember 1961 um 7:59 Uhr raste auf dem Land im Weld County ein Personenzug in einen Schulbus. 20 Kinder waren sofort tot. Der schwerste Verkehrsunfall in der Geschichte Colorados ließ siebzehn Überlebende und eine zerstörte Gemeinde zurück. 45 Jahre später erzählen die Geschichten derjenigen, die überlebten und derjenigen, die trauerten, wie ein einziger Moment die Macht hat, über Jahrzehnte das Leben der Menschen zu bestimmen.«

So beginnt die Artikelserie »The Crossing« in der Rocky Mountain News (RMN). Es sind Geschichten wie diese, die die Rocky Mountain News aus dem großen Einerlei amerikanischer Tageszeitungen herausragen lassen. Geschichten, über Monate recherchiert, fotografiert und umfangreich gedruckt stehen in der großen Erzähltradition amerikanischer Tageszeitungen.

Doch »The Crossing« ist nicht nur Titel der Artikelserie die vom 23. Januar bis zum 2. März 2007 täglich erschien, sondern vielmehr Programm. Sie stellt den Übergang auf das kleinere Berliner Format dar – Zentimeter, die der Krise geschuldet sind, um Kosten zu sparen. Wichtiger noch: Es ist der Übergang in eine neue Zeit, in der aus dem traditionsreichen Zeitungshaus ein multimedialer Nachrichtenanbieter wurde.

Die Printserie, die 33 Tage lang auf einer Doppelseite läuft, verweist auf das Online-Angebot. Dort wird die Geschichte nicht mehr nur von dem Reporter Kevin Vaugham und dem Fotografen Chris Schneider erzählt, sondern auch von den Menschen, die selbst von den Geschehnissen der Vergangenheit betroffen sind. In Videointerviews erzählen sie ihre Geschichte in eigenen Worten, teilen mit dem Betrachter alte Familienfotos und private Super 8 Filme, erlauben so einen Blick in ihr Leben und eröffnen dem Leser die Möglichkeit der gemeinsamen Kommunikation. Der Leser hat die Möglichkeit täglich mit dem Reporter und dem Fotograf live zu chatten, das Recherchematerial wird offengelegt und erlaubt einen Blick hinter die Kulissen der Geschichte. Jeden Tag kommen parallel zu den Artikeln in der Zeitung neue Online-Kapitel hinzu.

»Zum ersten Mal haben wir die Geschichte von Anfang an multimedial geplant und umgesetzt.« Michael Noe ist Interactive Editor und treibende Kraft der Rocky Mountain News Aktivitäten im Netz. »Natürlich hat ‚The Crossing‘ keinen Profit gemacht.« Dafür war der Aufwand viel zu groß. Ein Team von zehn Leuten, neben Reporter und Fotograf, ein Projektredakteur, zwei Videoreporter, zwei Designer, ein Multimediaentwickler, ein Printdesigner und ein Multimedia Redakteur waren mit dem Projekt fast neun Monate beschäftigt. »Trotzdem war die Geschichte sehr wichtig für uns, weil unsere Leser sich durch diesen Qualitätsjournalismus mit der Zeitung identifizieren«, meint Michael Noe.

Ohne die »Cash Cows«, wie zum Beispiel die Video Sport Kolumne, die unter Denvers Sportfans Kultstatus genießt, wäre dieser Qualitätsjournalismus nicht möglich. Vor allem die Videosparte wird immer weiter ausgebaut. Ende des Jahres hofft Michael Noe, dass die Rocky Mountain News täglich 20 Videofilme online stellen kann. Denn mit Videos lässt sich Geld verdienen, weil viele örtliche Firmen Werbevideos drehen, und der einzige lokale TV-Sender nicht genügend Sendeplatz zur Verfügung stellen kann.

Als die Rocky Mountain News vor einigen Jahren Channel 9 eine Zusammenarbeit im Internetauftritt anbot, zeigte der Sender ihnen arrogant die kalte Schulter. Daraufhin baute sich die Zeitung ihre eigene Infrastruktur auf, inklusive eines kleinen TV Studios. So wurde das Zeitungshaus zum Hauptkonkurrenten von Channel 9 um lokale Werbeetats. Mittlerweile sind die Rocky Mountain News im Netz profitabel, auch wenn das Onlinegeschäft erst acht Prozent zu den Einnahmen beiträgt. Dieser Anteil soll bis 2010 auf 20 Prozent wachsen.

Noch kann der Zuwachs im Onlinebereich nicht die Krise in der amerikanischen Zeitungslandschaft kompensieren, die auch die RMN dazu zwang, massiv Personal abzubauen. Ein großflächiger Raum, der noch vor kurzem die Wirtschaftsredaktion beherbergte, liegt fast völlig ausgestorben da. Nur in einer Ecke, ganz hinten, beschäftigen sich noch einige Redakteure mit dem Klatsch und Tratsch, der in jeder Zeitung dazugehört.

Es ist die älteste Tageszeitung Colorados, die seit 1859 erscheint und schon viele Krisen in ihrer turbulenten Geschichte gemeistert hat. Zuletzt brachte ein knallharter Wettbewerb mit der Denver Post beide Zeitungen an den Rand des Ruins, bis sie schließlich 2001 eine gemeinsame Firma gründeten, die die Kosten und Gewinne 50:50 aufteilt und für die Vermarktung der beiden voneinander journalistisch unabhängigen Blätter zuständig ist.

Nach dem Ende des wirtschaftlichen Wettbewerbs mit der Denver Post strukturierte die RMN ihren Newsroom komplett um und siedelte die Mitarbeiter von Online im Zentrum der Redaktion an. Diese neue Ordnung brachte einige Vorteile, wie die Nähe zu den Reportern und eine bessere Integration in die Redaktion, aber am Anfang auch etliche Probleme: die traditionellen Zeitungsredakteure sahen die Onlineredaktion als einen Dienstleister für Kopien, Telefonjobs und Bildrecherche oder als zweitklassige Konkurrenz im eigenen Haus. Um zu verhindern, dass die eigene Recherche vor dem Veröffentlichungstermin online erscheint, wurden Informationen vorenthalten und der Zugang zu Sportveranstaltungen eifersüchtig verhindert.

Während die rasante Entwicklung der Onlineredaktion, die in den vergangenen Jahren im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Managements stand, vielen der traditionellen Zeitungsredakteure zu schnell geht, meinen einige der jungen Multimediadesigner, dass selbst die Rocky Mountain News noch nicht konsequent genug auf dem Weg ins Internet voranschreitet und dessen vielfältige Möglichkeiten noch gar nicht begriffen hat.

»Wir sind eine Art Pioniere! Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen und bringen verschiedene Arbeitsstile in unseren Geschichten zusammen, finden dabei unseren Weg und lernen voneinander«, sagt Laressa Bachelor, während sie das Video einer McCain Wahlveranstaltung schneidet, das einige Stunden nach dem Event auf der Website verfügbar sein muss. Die 31-jährige begann ihre Medienkarriere vor 15 Jahren beim bolivianischen Fernsehen, machte ihren Masters in Interactive Journalism in Washington DC und wurde von der Rocky Mountain News als Multimediaproduzentin eingestellt, dreht inzwischen aber hauptsächlich Videoreportagen. »Bisher gibt es erst sehr wenige Videojournalisten auf dem Markt und so ist die Nachfrage nach ihnen gewaltig.«

Während traditionelle Journalisten eher eingespart werden, sucht Mike Noe dringend Multimediaproduzenten, Flashprogrammierer und Fotojournalisten mit Videoerfahrung. Der Interactive Editor, der die Online-Strategien bestimmt, formuliert sein Ziel so: »Bis Ende des Jahres wollen wir alle Redakteure soweit trainieren, dass sie ihre eigenen Inhalte online stellen können. Dazu haben wir ein neues Content-Management-System implementiert, das allen in der Redaktion erlaubt, jederzeit auf alle Inhalte zugreifen zu können, um sie zu ergänzen. So ist jeder immer informiert, was in allen Geschichten läuft.«

Noe sagt weiter: »Durch die Konzentration auf das Internet verändert sich auch unser Selbstverständnis als Zeitung. Kommunikation ist keine Einbahnstraße mehr. Das unterscheidet uns von vielen anderen Zeitungen, die dem Leser immer noch erzählen, was die Nachricht ist.« Permanent studiert Mike Noe das Verhalten der User, deren Gewohnheiten er heute viel genauer kennt, als das früher durch Leserbefragungen möglich war. Wenn ein Artikel wenig besucht wird, wird ein spannenderes Foto dafür gesucht oder eine griffigere Schlagzeile formuliert.

Damit nicht nur die täglichen kurzen Nachrichten im Netz erfolgreich sind, sondern auch komplexe Reportagen, die seit langer Zeit das Markenzeichen der Rocky Mountain News sind, müssen viele in der Redaktion umdenken.

Im November 2005 produzierte die Rocky Mountain News den Online Auftritt von ‚Final Salute‘. Gegen den ursprünglichen Widerstand einiger Redakteure hatten der Fotograf Todd Heisler und Reporter Jim Sheeler ein Jahr lang an einer Reportage über Major Steve Beck gearbeitet, der die schwierige Aufgabe hatte, Familien vom Tod ihrer im Irak gefallenen Angehörigen zu unterrichten.

Noe: »Das Webteam wurde leider erst zwei Monate vor dem Erscheinungstermin hinzugezogen. Wir stampften acht Diashows und fünf animierte Fotofilme auf einer eigens programmierten Flashseite aus dem Boden und einen Trailer, der auf die Serie aufmerksam machte. Die Zeitungsveröffentlichung war hervorragend und gewann zwei Pulitzer Preise, doch bei besserer Planung hätten wir online viel mehr erreichen können.«

Jedes Projekt sollte von Anfang an gemeinsam mit der Onlineredaktion geplant werden, meint Noe. Dabei müssten die Deadlines für Print und Online gleichberechtigt behandelt werden. Nach seiner Erfahrung verdoppelt oder verdreifacht sich die Zeit, die für die Erstellung einer Multimedia- und Zeitungsreportage im Vergleich zu der einfachen gedruckten Geschichte notwendig ist. Ein Redakteur müsse das ganze Projekt koordinieren und mehr noch als bei der klassischen Reportage sei eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten für die Qualität entscheidend.

Im April 2006, neun Monate bevor »The Crossing« erschien, wurde das Team zusammengestellt und in drei kleine Gruppen aufgeteilt. Während Projektredakteur, Reporter, Fotograf und zwei Videojournalisten zusammen die Familien und Archivmaterial recherchierten, einen visuellen Stil für das Projekt entwickelten und mit ersten gemeinsamen Interviews begannen, fingen die beiden anderen Teams an, Ideen für die Gestaltung im Web und für den Druck zu skizzieren. Der Besuch des Unfallortes war ihnen wichtig, um ein Gefühl für die Gegend zu bekommen.

Durch die Interviews der Videojournalisten und des Fotografen erhielt der Reporter zusätzliche Informationen für seine Geschichte. Die Begegnung mit dem Fotografen und die Erfahrungen bei den Videointerviews animierten die Familien private Filme und Fotos zur Verfügung zu stellen. Sie wurden so zu einem Teil des Teams. Mehr als drei Monate brauchten die Videojournalisten für ihre Aufnahmen und den ersten Rohschnitt des Materials. Im Spätsommer fiel die Entscheidung für das endgültige Web-design, und das Team legte etwa 30 Kapitel fest. Allein die Programmierung der speziellen Projektseite dauerte drei Monate. Um die gewaltige Menge an Informationen und Material zu verarbeiten, mussten die Redakteure einen genauen Produktionsplan erarbeiten und täglich überwachen, damit das Ziel, jede Geschichte eine Woche vor Erscheinen fertig zu stellen, eingehalten werden konnte.

»The Crossing« wurde zu der populärsten Geschichte auf rockymountainnews.com. Mike Noe ist stolz, dass die Geschichte innerhalb der ersten eineinhalb Monate mehr als 750000 Page Views erzielte. Aber viel wichtiger ist ihm, dass die Besucher sich sehr intensiv auf das Thema einließen. Durchschnittlich verbrachten sie sieben Minuten auf den Seiten der Geschichte, viele sogar 10 bis 15 Minuten. Und die Opfer der Tragödie haben sich durch diese Geschichte wieder gefunden, tauschen sich nach wie vor untereinander aus – und beziehen die Leser mit ein.

ROCKY MOUNTAIN NEWS
Die erste Ausgabe berichtete vom Goldrausch.1859 gegründet, ist die RMN aus enver die älteste Zeitung Colorados. Sie gehört seit 1926 der E-W. Scripps Company, die noch mehrere andere Medienunternehmen betreibt. Mit dem einstigen Rivalen Denver Post besteht eine regionale Kooperation. Seit 2000 hat die RMN vier Pulitzer Preise gewonnen.
AUFLAGE: 255000 Exemplare

ONLINE: 1,5 Millionen User monatlich, etwa 12 bis 13 Millionen Page Views
MITARBEITER: Etwa 200 Angestellte – Davon 14 Interactive (Designer, Multimediaproduzenten, etc.), 11 Fotografen, 2 Videojournalisten.
www.rockymountainnews.com

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Uwe H. Martin
Absolvent der Missouri School und der FH Hannover arbeitet als Fotojournalist. Diverse Ausstellungen.

Silvia Razgova
Fotografin in Boulder, USA, Master an der School of Journalism and Mass Communication, Universität Colorado.