Magazin #22

Fotos mit mehr Stimmen

Seit 50 Jahren wird der World Press Photo Award vergeben. Die so gekürten »Bilder des Jahres« werden oft zu Ikonen der Zeit- und Fotografiegeschichte.

Text – Peter Bialobrzeski

Stehen zwei Frauen vor zwei Bildern. Sagt die eine zur anderen: »Welches findest du jetzt besser, das linke oder das rechte?« Kein besonders guter Kalauer – schon gar nicht, wenn man die Situation ergänzt: Die Szene spielt im Pressehaus von Gruner & Jahr auf der Eröffnung der World-Press-Photo-Ausstellung 2002. Zugegeben: Die Damen sehen blond aus, halten ein Glas Wein in der Hand und führen eine äußerst niveaulose Debatte über die Qualität zweier prämierter Bilder, auf denen man Menschen aus dem brennenden World Trade Center in die Tiefe stürzen sieht.

Ob solcher Situationen stand ich den World Press Photo Awards eigentlich immer eher kritisch gegenüber – immer dieses Leiden, immer alles im entscheidenden Augenblick festgehalten, und immer schlugen sich die bildnerischen Trends der fotojournalistischen Avantgarde ein paar Jahre später in den prämierten Arbeiten nieder. Meistens nicht im World Press Photo, also dem Siegerfoto, mit dem 1955 in Holland alles anfing (übrigens ein spektakulärer Sturz eines Motocrossfahrers irgendwo in Dänemark). Ich stellte mir immer wieder die Frage, wie kann man eigentlich zwischen all den großen und kleinen Katastrophen das Bild auswählen, was als World Press Photo des Jahres überall gedruckt wird? Und wie zum Teufel kann man einem Bild mit aus dem World Trade Center stürzenden Menschen den Vorzug vor einem anderen geben?

»Das beste Bild existiert nicht«, sagt Aadrian Monshouver. »Das Gewinner-Bild bekommt nur mehr Stimmen als andere.« Er muss es wissen, denn er stand der Jury von 1992 bis 2004 als Sekretär vor. Unter am Ende knapp 100 Möglichkeiten entscheidet sich eine hochprofessionelle, aber sorgfältig ausgewählte Jury für ein konsensfähiges Bild. 50 Jahre geht das nun schon so, nur dreimal – 1959, 1961 und 1970 – fiel der Wettbewerb aus. Die gekürten Siegerfotos wurden häufig zu Ikonen der Fotogeschichte, wie zum Beispiel Nick Uts Foto des nackten vietnamesischen Mädchens auf der Flucht vor amerikanischem Napalm im Jahr 1972 oder auch Eddie Adams’ Hinrichtungsbild eines Vietcong 1968, von dem man sagt, wäre der Fotograf nicht dagewesen, hätte die spontane Exekution vielleicht nicht stattgefunden. Hier nahm eine moralische Debatte ihren Anfang, die heute in sämtlichen medientheoretischen Proseminaren abgehandelt wird und jedem arbeitenden Fotojournalisten schmerzhaft bewusst ist: Seine Anwesenheit gibt den Tätern möglicherweise erst ihre »15 minutes of fame«.

Das für mich abstoßendste Siegerbild aller Zeiten war Frank Fourniers Foto von 1985. Es zeigt ein Mädchen nach einem Vulkanausbruch und der folgenden Überschwemmung in Kolumbien, das sich verzweifelt an einen Baumstamm klammert und mit großen Augen in die Kamera schaut. Das Wasser steht ihr bis zum Hals. Später ist das Mädchen ertrunken, es war unter Wasser eingeklemmt. Das Bild strahlt eine Nähe aus, die die Vermutung nahe legt, der Fotograf Fournier – hätte er dem Mädchen eine Hand gereicht, statt seine Kamera zu benutzen – hätte sie vielleicht retten können. Wahrscheinlich ist das Unsinn, aber ich wurde den Gedanken nie los, und beim wiederholten Betrachten heute kommt mir wieder in den Sinn, dass vielleicht die letzte Erinnerung, die das Mädchen aus dieser Welt mitnahm, das Bild eines fremden Mannes war, der sich hinter einem Glasauge versteckte, statt zumindest zu versuchen, ihr zu helfen.

Wenn man die Jahrbücher mit sämtlichen Ergebnissen durchblättert, findet man immer wieder beeindruckende Reportagen. Als ich aus Anlass dieses Textes meinen ersten World-Press-Katalog aus dem Jahr 1988 hervorholte, war ich erstaunt, wie intensiv ich viele Bilder auch heute noch empfinde und wie präsent die Erinnerung an sie geblieben ist. Da ist Alon Reiningers Foto eines Aidskranken im Endstadium, Thomas Ernstings Siegerreportage über zwei Bäuerinnen im Tecklenburger Land, die für ihn den Grundstein zu einer langen Karriere legte, und vor allem Laurie Sparhams Foto aus einem kubanischen Hochsicherheitsgefängnis, das ein selbst gemaltes Schachbrett zeigt, zwei braune Arme, die sich durch die Gitterstäbe quälen, um auf dem Fußboden mit dem Zellennachbarn zu spielen.

Das Bild ist viel zu dunkel, es ist in Farbe, ohne bunt zu sein, es versucht, sich einer ästhetischen Beurteilung zu entziehen. Und rammt einem die metaphorische Faust in den Magen. Und genau das erhoffen sich die Organisatoren des Wettbewerbs von den Bildern: dass ihr aufklärerisches Potenzial die Menschen erreicht. Das tut es mittlerweile ganz bestimmt. Allein in Deutschland wird die Ausstellung in neun Städten gezeigt. Die genaue Zahl der Besucher lässt sich nicht beziffern, weltweit sollen es über eine Millionen Menschen pro Jahr sein. Ich bin immer wieder erstaunt, wie genau die Menschen sich die Bilder auf den Ausstellungen ansehen.

Insgesamt wandern bis zu fünf komplette Bildersätze durch 40 Länder auf allen fünf Kontinenten. Wie aktiv die World-Press-Stiftung dabei vorgeht, zeigt das Beispiel Afghanistan, wo schon im Jahr nach dem Fall der Taliban die Ausstellung unter schwierigsten Bedingungen gezeigt wurden.

Seit 1990 kümmert sich die Amsterdamer World Press Photo Foundation nicht nur um die Prämierung bereits berühmter Fotografen, sondern führt ein weltweit einmaliges Ausbildungsprogramm für junge Fotojournalisten durch. Mit der World Press Masterclass, die seit 1994 jährlich in Holland stattfindet, betreibt die Organisation gewissermaßen das Königsseminar für junge, internationale Fotografen. Das Auswahlprozedere ist streng, entsprechend hoch das Niveau der Debatte und die fotografische Qualität der Teilnehmer.

Viele »Studenten« aus der Masterclass tauchen später immer wieder auf den Siegerlisten des Wettbewerbs auf, allen voran die Südafrikanerin Jodi Bieber, die 1996 an der Masterclass teilnahm und seitdem sieben World Press Awards bekommen hat (vgl. FREELENS magazin # 20, S. 18-25). Auch die »Master« rekrutieren sich häufig aus den früheren Gewinnern oder gar aus den ehemaligen Teilnehmern, wie der Deutschen Eva Leitolf, die 1995 in der zweiten Studentengruppe war und im Jahr 2002 als »Master« zurückkehrte. Auch Kai Wiedenhöfer – ebenfalls Student im gleichen Jahr – konnte sich schon mehrfach über eine Auszeichnung der niederländischen Stiftung freuen.

In einer Masterclass-Debatte 1999 gestand der junge Däne Nicolai Fuglsig, der im gleichen Jahr mit seiner Reportage über radioaktive Wasserverschmutzung in dem russischen Dorf Muslumowo in der Kategorie »Fotoserien« gewann, ein, dass er seine »Reportage« komplett inszeniert hatte. Damit war er in guter Gesellschaft mit W. Eugene Smith und dessen spanischem Dorf. Im Gegensatz zu Smith kehrte Fuglsig der Fotografie den Rücken und ist heute einer der erfolgreichsten Werbefilmregisseure Dänemarks.

Als ich 2003 eingeladen war, einer der »Master« zu sein, stand nach der ersten Sichtung aller Arbeiten die junge Deutsche Sybille Fendt auf und sagte in gebrochenem Englisch: »I find all this works here very boring.« Für mich steht die Tatsache, das »Students« wie »Master« Sybille wegen ihrer offenen Art schätzten, stellvertretend für die Toleranz der gesamten Masterclass-Konzeption. Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, dass World Press junge Fotografen aus allen Kontinenten zusammenbringt und dann so unterschiedliche Positionen wie Fendts konzeptionelle Porträtfotografie zusammen mit Lynsey Addarios couragierter Agenturfotografie zur Diskussion stellt.

Das »Education Programme« von World Press Photo ist auch Grund für meine Läuterung, hatte ich doch im Winter 2002 das Privileg, gemeinsam mit Paul Lowe und Colin Jacobson einen Workshop für junge Fotografen in Ex-Jugoslawien zu geben. Die Leidenschaft und Hingabe, mit der Maarten Koets – der Leiter des Programms – seine Aufgabe wahrnimmt, gepaart mit absoluter Professionalität und menschlicher Gelassenheit, hat mich sehr beeindruckt.

Der zweite Grund war sicherlich mein Gewinn des ersten Preises »Art/Stories« im Jahr 2003 und die damit verbundene Einladung zur Preisverleihung nach Amsterdam. Bei nicht wenigen Wettbewerben haben die Fotografen eigentlich mit der Abgabe der Arbeit ihre Schuldigkeit getan, dann sind die Sponsoren, die Presse und die Veranstalter am Zug, sich und ihre Kunden zu feiern. Nicht so bei World Press. Extrem präzise und professionell, dabei immer ein Lächeln auf den Lippen, versteht es das junge Team um den Direktor Michiel Munneke, eine außergewöhnliche Veranstaltung für die Fotografen zu gestalten.

Die Tage in Amsterdam sind nicht so sehr als Preisverleihung denn als Ort der Begegnung zu verstehen. Munnekes Team weiß, dass Fotojournalisten in der Welt nicht der Respekt zukommt, den sie eigentlich verdienen. Umso wichtiger ist es ihnen, mit den Award Days die Fotografen und ihre Arbeit zu feiern. Jeder Preisträger erhält die Möglichkeit, dem Kollegenkreis und interessierten Betrachtern in einem kurzen Vortrag seine Arbeit näher zu bringen und sie zu diskutieren. Allein die geknüpften Kontakte und Begegnungen sind oftmals der Grund, nach Amsterdam zu reisen. Für viele junge Fotografen ist die Präsentation auch der erste Schritt, die Persönlichkeit hinter ihren Bildern sichtbar zu machen. Eine Möglichkeit, die in einem immer globaler werdenden Markt für mich den eigentlichen Wert der Veranstaltung ausmacht.

2005 haben zum 50. Jubiläum 4226 Fotografen aus 123 Ländern insgesamt 69.190 Fotos eingereicht. Zum Vergleich: 1988 war es nur ein Viertel davon. In diesem Jahr schrieben die Wettbewerbsbedingungen erstmals vor, sämtliches Material müsse als digitaler Datensatz eingeliefert werden – anders könnte die mittlerweile zweigeteilte Jury den Bilderberg nicht mehr bewältigen. Zunächst sortiert die Vorjury aus etwa 70.000 Bildern 20.000 heraus. Die Hauptjury bestimmt dann Kategorie für Kategorie die Siegerfotos und -reportagen. Dazu werden die Bilder per Digitalprojektion vorgeführt. Die Jurymitglieder drücken dabei einen Knopf für ja oder nein. »Bis zu einer Shortlist von zehn Arbeiten erfolgt die Auswahl per Abstimmung, danach überwiegt die Diskussion«, so Peter Bitzer, Direktor der Agentur Laif und Mitglied der Hauptjury 2005. Er führt die ausgewogene Mischung bei den Ergebnissen zwischen traditionellen und neueren Ansätzen auf die genaue und intelligente Zusammensetzung der Jury zurück.

Trotz aller guten Wünsche zum Fünfzigsten tut sich für den Wettbewerb ein großes Dilemma auf: Zugelassen sind nur professionell entstandene Fotografien. Die Bilder, die jetzt schon Ikonen der Gegenwart sind – wie die abstoßenden Dokumente aus Abu Ghraib oder die mit dem Handy gefilmten Sekunden nach der Explosion in der Londoner Piccadilly Line oder der über vermeintliche Paradiese brechende Tsunami –, stammen alle von Amateuren. Mit PDA oder Mobiltelefon aufgenommen, haben sie die Fotos an Nachrichtenagenturen gemailt, bevor der professionelle Bildberichterstatter überhaupt im Taxi zum Flugplatz sitzt. Im Zeitalter des »embedded photojournalism« bleibt zu vermuten, dass die Zeitdokumente, die voraussetzen, dass jemand zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, weder von James Nachtwey noch von Peter Turnley aufgenommen werden, sondern auf den Festplatten der Gefreiten alliierter Streitkräfte oder Überlebenden von Flugzeugabstürzen zu finden sind.

In gewisser Weise trägt die Entwicklung des Wettbewerbs dem schon Rechnung: Wurde 1955 nur ein Bild gekürt, gibt es mittlerweile 21 Kategorien. Betrachtet man eigentlich unscheinbare Abteilungen wie »Sport«, so finden sich 2005 die außergewöhnlichen Schwarzweiß-Bilder von David Burnett von den Olympischen Spielen in Athen auf dem ersten Platz, die sich ästhetisch an Künstlern wie Miklos Gaal orientieren. Ein anderes Highlight fern von traditionellen journalistischen Bildkonventionen ist Lars Tunbjörks Erstplatzierung in der Kategorie »Arts and Entertainment« mit seiner Serie über die »Paris Fashion Week« für Libération.

Der Stiftung World Press Photo gelingt stets ein ungeheurer Spagat: Ihren Grundsätzen folgend, dass die prämierten Bilder, wie die Juryvorsitzende 2004 Elisabeth Biondi es formulierte, »von großer journalistischer Wichtigkeit« sein sowie über eine »herausragende visuelle Qualität in Wahrnehmung und Kreativität« verfügen sollen, schickt sie jährlich immer wieder Ausstellungen auf Welttournee, die den Stand der Dinge im internationalen Fotojournalismus exzellent widerspiegeln.

Ja, es gibt immer wieder noch weinende Mütter und Großmütter, auch die unvermeidlichen Säbel und Maschinengewehre schwingenden Afrikaner tauchen immer wieder auf. Alle Jahre wieder gewinnen auch ein oder zwei von den stets sehr sympathischen jungen Dänen, die die Vergrößerungstechnik eines Don McCullin am Computer simulieren.

Dass diese Fotos zusammen mit Jodi Biebers unprätentiösen Porträts von Opfern häuslicher Gewalt oder Michael Wolfs Dokumentation über die Lebensbedingungen chinesischer Arbeiter zusammen durch die Welt reisen können, verdanken die Bewohner derselben der holländischen Stiftung World Press Photo. Ich wünsche mir, dass diese Vielseitigkeit weiter besteht und Michiel Munneke, seinem Team und der gesamten World Press Photo Foundation noch mal 50 Jahre dieses Engagement. Mindestens!

Mary Panzer
»things as they are«
Photojournalism in context since 1955.
London: Chris Boot Ltd 2005.
384 S. mit 600 Farbfotos. 65 Euro
Einblicke in ein halbes Jahrhundert Fotojournalismus anhand von 120 reproduzierten Reportagen – von Life bis zum Debüt der Handyfotos. Gezeigt werden Strecken u. a. von Richard Avedon, Henri Cartier-Bresson, Walker Evans, Nan Goldin, W. Eugene Smith und Mary Ellen Mark.

Website
www.worldpressphoto.com

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Peter Bialobrzeski
absolvierte die Folkwangschule in Essen. World Press Photo Award 2003 Art/Stories, Master in der World Press Masterclass 2003, seit 2002 Professor für Fotografie HfK Bremen. Publikationen: Neontigers (2004), Heimat (2005). Textbeiträge für Photonews und das FREELENS Magazin.