Magazin #14

Gegensätze

Texte – Manuel Armenis / Michael Klein-Reitzenstein

Solomon’s House von Henrik Saxgren beginnt mit dem Foto eines Kindes, das eine kleine Puppe in den Händen hält. Während das Kind vor dem dunklen Bildhintergrund lediglich schemenhaft zu erkennen ist, wirkt die in Licht getauchte Spielzeugballerina in seinen Händen nahezu wie eine Heiligenstatuette. Das Bild vermittelt das Bedürfnis nach Liebe – danach, beschützt zu werden, Kind sein zu dürfen. Es vermittelt aber auch die permanente Präsenz von Vergänglichkeit: der Vergänglichkeit jener wackligen sozialen Netze, die die Kinder aufbauen, aber auch der Vergänglichkeit von Unschuld, Freiheit und nicht zuletzt von Kindheit selbst. Es ist ein unglaublich ausdrucksstarkes Foto, welches auf subtile Weise die im Buch dargestellte Tragödie zusammenfasst.

Nicaragua zählt zu den ärmsten Ländern der Erde. Mit den Kolonialkreuzzügen der Spanier wurde die indianische Kultur weitläufig zerstört; die Folge waren Abhängigkeit, Unterdrückung und Traditionsverlust. Wie ein Geschwür zieht sich dann ein Geflecht aus Armut, sozialer Not, Kriminalität, Machtmissbrauch und politischer Unterdrückung durch das Nicaragua des 20. Jahrhunderts. Grund zur Hoffnung kam Ende der 70er Jahre auf, als es der Sandinista gelang, den Diktator Somoza zu stürzen.

Das ehrgeizige Konzept der Guerrilleros sollte dem Land wieder auf die Beine helfen: Programme zur Bildungs- und Gesundheitsreform sowie eine Verbesserung der Infrastruktur waren die Grundpfeiler. Doch von den USA unterstützte Gegenrevolutionäre – die Contras – attackierten die Regierung an allen Fronten und verstrickten das Land in einen erbarmungslosen, langjährigen Krieg, der zum Untergang der Sandinista, zum Scheitern der Reformen führte und ein noch ärmeres, noch zerrütteteres Nicaragua hervorbrachte.

Dieses Nicaragua zum Ende des 20. Jahrhunderts porträtiert der dänische Fotograf Henrik Saxgren in seinem Buch Solomon’s House. In den Mittelpunkt stellt er den Überlebenskampf zahlloser Kinder und Jugendlicher in der Hauptstadt Managua. Viele von ihnen haben durch den Krieg Eltern und Angehörige verloren. Nach dem Ende der Sandinista-Epoche wurden nahezu sämtliche Waisenhäuser des Landes geschlossen, und die Kinder waren plötzlich sich selbst überlassen.

In seinen Fotos zeichnet Saxgren ein ernüchterndes Bild dieser Straßenkinder; ein Bild ihres täglichen Kampfes, am Leben zu bleiben und eine Existenznische zu finden. Während die Jungen meist in kriminelle, mafiöse Kreise rutschen, haben sich die Mädchen größtenteils der Prostitution verschrieben. Sie alle leben in den verwinkelten Gassen und Seitenstraßen des Marktplatzes von Managua.

Saxgren zeichnet in seinen Schwarzweiß-Bildern ein vielschichtiges Porträt dieser Lebenssituation und gewährt Einblick in die brutalen Zustände und Abläufe jener Welt. Seine Fotos zeigen junge Mädchen, die – mit ihren dreizehn oder fünfzehn Jahren fast noch Kinder – oft selbst schon mehrfache Mütter sind. Sie alle prostituieren sich im Rotlichtviertel des Marktes. Um ihre Situation erträglicher zu machen, betäuben sie sich mit dem Inhalieren von Klebstoffen.

Ein zentrales Thema, auf das sich auch der Buchtitel bezieht, ist der Umstand, dass viele dieser jungen Mädchen zu mehreren im Haus eines alten Mannes wohnen; er stellt für sie sowohl Vaterfigur als auch Liebhaber und Zuhälter dar. Es gibt etwa ein halbes Dutzend solcher Häuser rings um den Markt. Saxgrens Fotos vermitteln die Perversion und

Abhängigkeit, welche diese »Wohngemeinschaften« prägen, aber auch die vermeintliche Sicherheit und Zugehörigkeit, die die Mädchen zu empfinden scheinen.

Die Fotos greifen in ihrer Bildsprache die Zerbrechlichkeit und das Chaos der Lebenssituation der Mädchen auf – sie sind häufig unscharf oder verwischt, wirken gelegentlich wie Schnappschüsse –, und doch erfasst Saxgren präzise inhaltliche Details. Es sind die Blicke der Kinder, die er mit unglaublicher Sensibilität einfängt, den Ausdruck ihrer Augen, der

gelegentlich noch einen Hauch von Unschuld, von Kind-Sein durchblitzen lässt. Oder zumindest den Wunsch danach. Doch es scheint klar, dass es ein Wunsch bleiben wird. Denn auf dem »mercado« von Managua gibt es das nicht, was einem Kind eigentlich uneingeschränkt zustehen sollte – bedingungslose Liebe. Die Mädchen müssen ihre Körper verkaufen, um ein bisschen Liebe zu erhalten von den alten Männern, in deren Häusern sie wohnen dürfen.

Solomon’s House weckt beim Anschauen Gefühle von Wut, Ohnmacht, Resignation. Doch Henrik Saxgren hütet sich davor, in seinen Bildern zu werten oder zu bewerten. Obwohl die Fotos präzise Bestandsaufnahmen einer grausamen Welt sind, lässt er dem Betrachter ausreichend Freiraum, sich ein eigenes Bild aufzubauen und das Gesehene für sich selbst zu begreifen.

Szenenwechsel: Die Øresundbrücke. 18 Mio. Tonnen Sand und Kalkstein, 82.000 Tonnen Stahl, 2.300 Tonnen Kabel mit einer Gesamtlänge von 25 Kilometern, 260.000 Liter Rostschutzfarbe.

Gesamtlänge: 7,8 Kilometer, bestehend aus zwei Brückenrampen, die auf insgesamt 51 Pfeilern ruhen, sowie einem 1.000 Meter langen, frei hängenden Verbindungsstück, das durch 4 Pylone von je 204 Meter Höhe gehalten wird. Durchfahrthöhe: 55 Meter, zwei übereinander angeordnete Fahrebenen für Auto- bzw. Zugverkehr. Bauzeit: 5 Jahre, Kosten: 4,1 Milliarden Mark.

Eine öde Baustellenlandschaft, durch die ein Wasserschlauch läuft, der sich im Nirgendwo verliert. Ein Kranausleger in Schwindel erregender Höhe über dem Meer. Auf dem Stahlstück, das er trägt, stehen – winzig klein, schwebend zwischen Himmel und Erde – zwei Arbeiter. Dies sind die ersten Fotos, mit denen Henrik Saxgren sein Buch über den Bau der Øresundbrücke beginnen lässt.

»Pylonia« nennt er jenes Land aus Stahl und Beton, das zwischen Malmö und Kopenhagen aus dem Meer wuchs. Im Panoramaformat zeigt er das Entstehen dieses Bauwerks, dessen Ausmaße an das Werk von Titanen erinnern. Und doch sind es Menschen, die diese gigantische Technik beherrschen. Meist sind sie nur sehr klein, schemenhaft oder als Schattenrisse zu erkennen; die Technik überdeckt sie förmlich, lässt sie verschwinden. Trotz der ungeheuren Arbeitsleistung und Logistik, die hinter einem solchen Großprojekt stehen, strahlen die Arbeiter immer eine große Ruhe und Gelassenheit aus, die uns, die wir nichts von ihrer Arbeit verstehen, fremd bleibt. Sie wissen, was sie tun; es ist ihr Job, diese Brücke zu bauen. Nicht mehr und nicht weniger.

Henrik Saxgren versteht es, die Schönheit von Pylonia – diesem Chaos aus Eisen und Stein – in Bilder zu kleiden, die dieses Buch weit über eine reine Dokumentation hinausragen lassen. Er zeigt das, was er gesehen hat. Ein Land, in dem Menschen zwischen riesigen Stahlträgern leben. Ein Land, in dem es Kabel gibt, so dick wie Baumstämme, Schrauben, so groß wie Arme. In diesem Land tanzen die Menschen auf schmalen Trägern 200 Meter über dem Meer. Wie Spinnen lassen sie sich an seidenen Fäden in die Tiefe gleiten. Sie dirigieren Kräne zu einer unhörbaren Musik. Pylonia ist ein Land, das es so nie gegeben hat, nur Henrik Saxgren hat es gesehen. Gut, das er eine Kamera dabei hatte.

Solomon’s House und Pylonia. Zwei Arbeiten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

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Henrik Saxgren:

Solomon’s House
144 Seiten mit 120 großformatigen SW-Abb.
New York: Aperture 2000. 40 $

Pylonia
o. Pag. 89 ganzseitige Panoramatafeln und 10 Farbabb.
Stockholm: Journal 2000.