Magazin #11

Hier riecht’s nach Fotografie

2.500 Bilder von 175 Fotografen in 50 Ausstellungen. 18 Diskus­sionsforen, 30.000 Besucher. Die »Internationalen Fototage« verwandeln Herten jedes Jahr für vier Wochen in Deutschlands Foto-Metropole – statt Kohlenstaub der Geruch von Fotografie. Ein ehemaliger Fotograf drückt dem Festival seinen persönlichen Stempel auf: Hansjoachim Nierentz, bei Agfa für Öffentlichkeitsarbeit in Sachen Fotografie zuständig und als Vorsitzender des Veranstalters »Das Bildforum« der Kreativdirektor des Festivals

Interview – Lutz Fischmann & Manfred Scharnberg

FreeLens: Wann entstand die Idee, noch ein Fotofestival zu installieren?

Nierentz: Das war 1991, und es sollte ein Festival der ganz anderen Art werden. Nicht eins von Fachleuten für Fachleute, kein Arles, Houston oder Perpignan, weil dort immer die gleichen Leute miteinander reden. Herten sollte nach außen offen sein, und das hieß, mit den Bildern zu den Menschen zu gehen – deswegen auch dieser ungewöhnliche Spielort.

Und das Festival sollte gute Bilder zeigen, weil jeden Tag Milliarden von schlechten Bildern in die Welt gesetzt werden. Ich wollte die Leute zwingen, sich mal gute Bilder anzuschauen. Durch dieses Öffnen hab ich ein ganz anderes Publikum nach Herten geholt.

Hinter den Fototagen steht auch die Firma Agfa. Wie viel Filme verkauft sie dadurch mehr?

Kurzfristig keinen einzigen, glaube ich. Wir sind am Firmenimage interessiert, das hat mit Film oder Papier im ersten Gang explizit nichts zu tun. Das einzige, was Fotografen interessiert, sind Bilder, und nicht, wie viele Pixel ich darauf erkenne.

Ich kann aus meiner Position heraus nur an unserem Image arbeiten. Agfa zeigt Kompetenz für Bilder. Hinter diesem Konzept steht auch der Vorstand. Ein Fotokonzern – oder Imageingkonzern, wie sich das heute nennt – ist gut beraten, sich über Bilder zu artikulieren. Daran arbeite ich. Das verfestigt sichirgendwann.

Man wird auf diese Weise nie bestimmte Produkte pushen können; wer kauft schon einen Schwarz-Weiß-Film, nur weil wir so ein gutes Festival machen? Aber die Botschaft kommt an: Wir machen nicht nur die Produkte, sondern interessieren uns auch dafür, was damit geschieht.

Wie sind Sie gerade auf Herten als Veranstaltungsort gekommen?

Das war Zufall. Der Rat der Stadt hat viel für Fotografie übrig, da finden immer Ausstellungen statt. Ich bin hingefahren und habe das Schwimmbad gesehen, das Wasserschloss, die Maschinenhallen, das Rathaus und später auch den Bunker. Da spürte ich, dass diese Region und diese Stadt ein eigenartiges Spannungsfeld haben. Die Industriekultur, die da zerfällt, diese Bergwerke, die geschlossen werden. Und dann dieser hohe Ausländeranteil auf der anderen Seite. Insgesamt gibt es so eine leichte Aufbruchstimmung, die man aus der ganzen Region kennt. Das hat etwas ausgesprochen Prozesshaftes.

Aber warum gerade der Schritt in die fotografische Provinz?

Es war die Herausforderung, dieses Medium, das der Stadt eigentlich völlig fremd war, dort hineinzutragen. Man kann sich vorstellen, was die Prognostiker sagten: »Junge, das kannst du gleich sein lassen, das funktioniert nicht. In Arles ist immer schönes Wetter, da sitzt man auf dem Place de Forum und trinkt seinen Rotwein und guckt sich anschließend die berühmten Fotografen an. Lass das mit Herten sein!« Das hat mich dann zusätzlich ein bisschen bockig gemacht.

Wie haben die Bürger von Herten auf die vielen Fotos reagiert?

Am Anfang haben wir das Festival wie einen Setzling in die Stadt gepflanzt. Das hatte keine Wurzeln, war ein Fremdkörper. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Aktivitäten, die wir mit den Einwohnern machen. Es gibt Fotoworkshops mit Patienten der Psychiatrie. Wir haben mit Asylanten, mit Schülern, mit Kindergärten, mit Senioren Fotoprojekte gemacht. Das hat die Fototage sehr schnell eingebettet. Unter den schätzungsweise 30.000 Besuchern sind viele Hertener Bürger.

Aber was ist das Besondere am Hertener Festival?

Einerseits ist es die sehr große Bandbreite an Fotografie, die wir zeigen, die Ansprache eines Millionenpublikums, seien es Profis, seien es Amateure, seien es Leute, die einfach mal wissen wollen, wie Fotografie funktioniert. Ich glaube, der entscheidende Punkt des Erfolges von Herten ist, dass wir einfach eine fotografische Basisdemokratie praktizieren. Dort hänge ich vom Berufsfotografen bis zum Amateur alles an die Wand. Hauptsache, es ist gut.

Und in Herten werden den Fotografiepäpsten nicht die Ringe geküsst – dass Bildredakteure, oder wer sich sonst für wichtig hält, Hof halten und die Fotografen gnädig an sich vorbeidefilieren lassen, ist etwas, was wir in Herten nicht haben. Bei uns geht es wirklich völlig horizontal zu. Prominente Fotografen mischen sich unters Volk, sind ansprechbar, gehören mit dazu.

Trotz Basisdemokratie entscheiden Sie…

In Herten haben wir eine funktionierende Demokratur. Was ich sage, wird gemacht. Ich trage ja auch die Verantwortung. Das kann man gut finden oder auch nicht, da wird nicht lange lamentiert und diskutiert: Was in den Ausstellungen hängt, welche Schwerpunkte es gibt, das entwickle ich, das gebe ich auch vor. Es funktioniert eindeutig. Und wenn’s mal nicht funktioniert, dann kriege ich eben die Prügel. Das schließt aber keineswegs die Diskussion mit dem Team über die Form der Präsentation aus. Die findet natürlich immer und in fruchtbarer Weise statt.

Gibt es ein spezielles Herten-Motto?
Nein, aber was das Programm angeht, habe ich das Wort von Rosa Luxemburg etwas variiert: Freiheit ist immer Freiheit der Andersfotografierenden.

Ich empfinde es als negativ an der Berufsgruppe der Fotografen, dass sehr wenige von ihnen in der Lage sind, die Arbeit eines Kollegen vorbehaltlos gut zu finden. Die Toleranz des Berufsstandes gleicht manchmal einer Hackordnung – dass nämlich ein Fotograf auf den anderen herabschaut; er ist doch der viel bessere Fotograf, oder die Werbefotografie ist doch viel besser und anspruchsvoller oder umgekehrt. Das gibt es in Herten eigentlich nicht. Zumindest ist das mein Anspruch.

In diesem Jahr zeigen Sie schwerpunktmäßig japanische Fotografie. Wie sind Sie an das Ausstellungskonzept herangegangen?

Eigentlich ziemlich unbedarft – jeder Kurator kriegt graue Haare, wenn er merkt, wie ich arbeite. Ich mach’s einfach aus meinem Gefühl, nehme, was mir gefällt und von dem ich denke, dass es die Leute auch interessiert.

Ich bin nach Japan gefahren ohne große Vorstellungen im Gepäck. Ungefähr wusste ich, wo die Schwerpunkte liegen, hatte etwas über japanische historische Fotografie gelesen. Sieben Tage lang bin in Galerien gewesen, habe Vernissagen besucht und mit Fotografen gesprochen. Und habe die großen Museen aufgesucht, das Tokio Metropolitan, das Kawasaki City Museum und das in Yokohama. Die haben mir sehr weitergeholfen, indem sie mir viel Material gegeben und Kontakte hergestellt haben.

Daneben habe ich mit zwei großen Galerien gearbeitet, dem ZeitFotosalon und der Photo Gallery International. Die haben ihr Programm selbst zusammengestellt. Denn es ist wichtig, dass ich nicht als Europäer daherkomme und den Japanern etwas überstülpe, von dem ich meine, dass es japanische Fotografie ist, sondern das möchte ich schon von ihnen selbst wissen.

Ich glaube, es ist insgesamt ein sehr spannender Mix herausgekommen. Nicht mit dem Anspruch, das ist DIE japanische Fotografie. Ich will neugierig machen, unterschiedliche Positionen zeigen.

Ein Schwerpunkt im Bereich der journalistischen Fotografie in diesem Jahr war sicherlich Anders Petersen?

Ja, dieser fast vergessene Fotograf des legendären Kultbuches über die St. Pauli-Kneipe »Lehmitz« hat viele Besucher begeistert. Was mich an Anders Petersen so beeindruckt hat, ist: Er hat die Leute wirklich geliebt, hat sie nicht abfotografiert als Objekte. Man merkt seine Neugierde. Als er die Fotos gemacht hat, war er wahrscheinlich genauso besoffen wie die Kneipengäste. Das ist Liebe in den Bildern. Da kann jeder Professor noch so gelehrt daherquatschen, das muss man sich angucken und mit dem Bauch fühlen.

Sie zeigten auch Simon Norfolks Arbeiten – sehr stille Fotos.

Ja, aber ich würde sie auch bildjournalistisch sehen. Unter dem Titel »For most of it I have no words…« zeigt er Orte, an denen Genozide und Kriegsverbrechen stattgefunden haben – auf eine sehr zurückhaltende Weise. Ich mag den Hau-Ruck-Bildjournalismus nicht so gerne, der mit den ganz starken Farben malt. Simon Norfolks Fotos dagegen, kann ich mir vorstellen, sind kaum zu verkaufen. Denn ohne, dass man die toten Menschen rumliegen sieht, stellt er Genozide so dar, dass sich einem wirklich die Nackenhaare hochstellen. Wenn ich die Treppe von Auschwitz sehe, ist da nur eine Treppe, sonst nichts. Da ist kein Folterwerkzeug, nur ein bisschen Licht, aber mir wird ganz flau im Magen. Was so ein Bild auslösen kann, ohne sich so plakativ damit auseinanderzusetzen.

Warum findet man die Bilder, die Sie in Herten zeigen, nicht in den Printmedien?

Im Bildjournalismus, der Land auf, Land ab stattfindet, herrscht zum Teil ein erschreckend niedriges Niveau, was Bildaussage und Bildgestaltung angeht. Wir können nur in wenigen Blättern verzeichnen, dass der Bildjournalismus ab einer gewissen Ebene noch existiert. Da brechen in letzter Zeit immer mehr Positionen weg, wenn wir an die Magazine denken. Den Zeitungsmachern ist das Bild immer noch nicht wichtig genug. Deshalb nehmen sie auch eine mangelnde Qualität in Kauf. Aber wenn ich sehe, was an jungen guten Fotografen herumläuft, dann wird dieses Angebot von den Machern nicht angenommen.

Nützt Herten der Fotografie, oder etabliert sich hier nur eine beschützende Werkstatt?

Ich denke, Herten versucht unter anderem auch eine Lobby für Fotografie zu schaffen. Ein Verständnis für Fotografie. Deswegen sind wir ja auch nicht spezialisiert, sondern zeigen ein großes Spektrum. Das geht mit dem Amateurverein an der Ecke los. Der aus Essen, der seine Heimatstadt fotografiert, den hängen wir in die Waschkaue in der Zeche Schlägel und Eisen, und das hört mit einem Projekt von Arno Fischer und seinen jetzigen und ehemaligen Schülern über das Ruhrgebiet auf. So etwas hänge ich mit den berühmtesten japanischen Fotografen zusammen. Es ist dieses Spannungsfeld, das ich zeigen will – dass es nie aufhört, spannend zu sein.

Ein ganz wichtiger Punkt ist Wahrnehmung. Wahrnehmung über Bilder, aber auch die unterschiedliche Wahrnehmung, die wir alle haben. Dieses Phänomen Wahrnehmung drückt sich in Bildern besonders signifikant und besonders darstellbar aus. Wahr-Nehmung – man nimmt etwas, was man für wahr hält, das ist die subjektive Sicht eines Fotografen.

Wandert damit die journalistische Fotografie nicht immer mehr in den Elfenbeinturm ab?

Ja, leider. Aber wir zumindest hängen sie an die Wand. Wir holen ganz viele Leute dazu, die können sich eine Meinung dazu machen; sich mit dem Fotografen auseinandersetzen. Gerade für junge Leute ist das wichtig. Ich merke das immer, wenn die eine Ausstellung bei uns kriegen, wie wichtig das für sie ist. Die stellen sich neben ihre Bilder und unterhalten sich mit den Leuten. Wir bieten ihnen eine Plattform. Doch das kann natürlich nicht alles sein.

Wir sind gehalten, weiter darüber nachzudenken, wie man Bildern andere Plattformen bieten kann. Wenn die tradierten Medien wegbrechen, kann ich keine Bilder mehr machen, oder ich muss mir eine Plattform überlegen. Das Internet ist sicher eine Teillösung, ein Appetizer. Wenn ich mir eine Ausstellung im Internet angucke und sage, die möchte ich im Original sehen, ist es ja in Ordnung.

Ich glaube nicht, dass wir uns mit den tradierten Mitteln gegen die Bilderflut stemmen können. Wenn ich skizziere, wie es sein müsste, dann heißt es eigentlich, dass wir beginnen müssen, in frühester Jugend ein Bewusstsein für Bilder zu entwickeln.

Trotz unserer vielfältigen Medienwelt sehen Sie kein Bewusstsein für Bilder?

Eigentlich nicht, wir sind in das Medienzeitalter irgendwie reingewachsen. In der Schule lernt man es ja auch nicht. Damit müsste es losgehen: Verantwortungsbewusst mit Medien umzugehen, ist das eine. Dazu kommt: Verantwortungsbewusst mit Inhalten umzugehen. Denn über die Inhalte sind wir letztendlich alle beeinflussbar und manipulierbar. Dabei liegt die Verantwortung kaum noch beim Fotografen, sondern bei dem, der die Bilder benutzt, wie und in welchem Kontext er sie verwendet.

Was ist für Sie jeweils der spannendste Moment des Festivals?

Die Frage: Wie kommt meine Zusammenstellung der unterschiedlichsten Fotografien an? Das Festival ist für mich wie ein Gesamtkunstwerk. Daran baue ich ganz lange. Ich bastele etwas zusammen, und das darf an keiner Stelle auseinanderbrechen. Der Gesamtanspruch ist für mich dominierend.

Wie wird sich das Fotofestival weiterentwickeln?

1999 werden wir nicht nur die Fototage einläuten, sondern auch den Monat der Fotografie im Ruhrgebiet. Diese Region hat einen kulturell und fotografisch sehr, sehr interessanten Hintergrund. Wir sind in Essen präsent, wir sind in Mühlheim, Duisburg und Oberhausen präsent. Wir entwickeln uns, erweitern uns, schwappen allmählich ins Ruhrgebiet und damit in eine der aufregendsten Region Deutschlands.