Magazin #07

Im Rechner gibt die Fotografie ihren Geist auf

Der Begriff der »fotografischen Wahrheit« wird oft mißverständlich gedeutet. Und die Auffassung von »Abbildungstreue« in der Fotografie hat sich bis heute gewandelt

Text – Prof. Gottfried Jäger

Abbildungstreue ist ein Schlüsselbegriff, der die Geschichte der Fotografie bis in die Gegenwart begleitet. Doch im Laufe der Zeit hat sich seine Bedeutung verschoben: »Wahrheit und Treue« der Abbildung beziehen sich nicht mehr wie ursprünglich auf die objektiv feststellbare »Realität« eines Gegenstandes. Abbildungstreue schließt auch die subjektive »Realität« des Fotografen ein – die »Treue« des Fotos zum Autor und dem Bild, das er sich von einem Gegenstand macht. Doch heute wird vor allem über die »Treue« des Mediums zu sich selbst diskutiert. Dabei geht es um die Frage, wieweit sich die Fotografie im Zeitalter ihrer elektronischen Manipulierbarkeit selbst treu bleiben kann. Die Frage führt notwendig auf die Ursprünge zurück.

OBJEKT

Ein Foto nimmt sichtbare Gegenstände auf und bildet sie ab. Seine Wirkung beruht auf Ähnlichkeit, es vermittelt Ausschnitte aus Raum und Zeit. Ziel ist Identität zwischen Abbild und Abgebildetem, formale Wahrheit. Man spricht vom »Wiedererkennungswert«. Siegfried Kracauer schrieb der Fotografie in seiner Theorie des Films »eine ausgesprochene Affinität zur ungestellten Realität« zu: »Die Wirklichkeit wird eingespannt, um sich selbst vorzuführen.« Schon der Grundlagenvertrag der Fotografie von 1829 zwischen Nièpce und Daguerre sprach von der weitgehenden Automatik des Verfahrens, bei dem die Bilder »von selbst«, also »ohne Mitwirkung eines Zeichners«, in einem Apparat entstehen.

Für einen großen Teil der Fotografen gilt dies bis heute. Man kann die Übereinkunft als Grundkonsens und einen Kodex derjenigen ansehen, die sich auf die realistische Tradition der Künste und die dokumentarische Qualität der Fotografie beziehen. Aber auch das Gegenteil ist möglich: die bewußte Demontage dieses Ideals, das Bild, das sich den Konventionen widersetzt. An die Stelle formaler Wahrheit tritt menschlicher Gestaltungswille. Diese Art Fotografien sind nicht »genommen«, sondern »gemacht«. Aber deshalb sind sie nicht weniger »wahr«. Nur verlassen sie den Pfad direkter Abbildung. Sie suchen die indirekte Abbildung, das Spiel mit dem Medium. In der Geschichte der bildmäßigen Fotografie lassen sich so zwei »Programme« unterscheiden: die realistisch–abbildende und die konzeptionell–bildgebende Tendenz. Beide folgen unterschiedlichen Vorstellungen von Aufgabe und Ziel des fotografischen Bildes. Dennoch beeinflussen und durchdringen sie einander.

SUBJEKT

Die formale »Falschheit« ist Folge einer Umformung des Gegenstandes im Bild zugunsten der Darstellung von Zusammenhängen, die über die äußere Form des Gegenstandes hinausgehen. Mit bewußter »Gestaltung« will man rein oberflächlicher Abbildung entgehen. Ziel ist eine andere Stufe der Wahrheit – das »realistische« Bild, das das Innere der Dinge vermittelt und den Blick hinter die Kulissen freigibt. Es werden Zusammenhänge sichtbar gemacht, die sonst nicht sichtbar wären. Auch die wissenschaftliche Fotografie bedient sich der formalen Falschheit zur Veranschaulichung des Unbekannten und Verborgenen. Die Reihenfotografien von E. Muybridge und die Chronofotografien von E. Marey sind historische Beispiele.

Das Foto ist hier Ergebnis einer künstlerischen oder wissenschaftlichen Idee und Erkenntnismittel zugleich. Es zeigt die Haltung des Fotografen gegenüber dem Gegenstand. Das Bild deutet die Dinge neu, hebt Einzelheiten hervor, vernachlässigt andere. Es beschäftigt sich auch mit dem Vorgang des Bildermachens selbst. Dabei ist jedes Mittel recht – Verfremdung, Inszenierung, Montage, Manipulation der Technik und des Materials.

»Während der Arbeiten an meinen Collagen wurde mir klar«, sagt David Hockney in »Camerawork« zu seinen Fotomontagen aus den Jahren 1982 und 1983, »wie eng das Sehen mit dem Denken verknüpft ist, mit dem permanenten Ordnen und Neuordnen von endlosen Detailketten, die unsere Augen an das Gehirn weitergeben. Jedes Polaroid hat eine andere Perspektive und einen anderen Brennpunkt. Die Gesamtperspektive setzt sich aus hunderten von Mikroperspektiven zusammen. Das heißt, daß die Erinnerung eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung spielt. In jedem Moment nimmt mein Auge ein anderes Detail auf – es kann ein breites Spektrum nicht auf einmal erfassen –, und nur die Erinnerung an das Vorausgegangene erlaubt mir, ein fortlaufendes Bild der Welt zu formen. Sonst würde ja alles ausgelöscht, was ich gerade nicht ansehe – aber das geschieht nicht! Das ist ein bemerkenswerter Aspekt – und genau der Teil der visuellen Wahrnehmung, der in der herkömmlichen Fotografie verfälscht wird.«

Fotos dieser Art sind nicht allein Ergebnis eines physikalischen Vorgangs, sondern Resultate bildnerischen Denkens. Sie deuten einen Gegenstand um und führen ihn einer neuen Betrachtung zu. Darin spiegelt sich eine persönliche Beziehung zwischen Gegenstand, Autor und Bild. Die Person, die das Bild entstehen ließ, entscheidet über seine »Wahrheit«.

MEDIUM

Parallel zu diesen Entwicklungen erfuhren die fotografischen Mittel zunehmende Beachtung und Eigenständigkeit. Um die Jahrhundertwende begann eine Phase ausgreifender Erkundungen. Neue Methoden wurden entdeckt, die Farbfotografie, die Mikro- und Makrofotografie, Zeitdehnung, Zeitraffung. Die bildende Kunst der Zeit griff die neuen Bilder zum Teil begeistert auf. Die Folge war eine gewisse Verselbständigung der Mittel, Beispiele dazu sind Fotogramm und Luminogramm um 1920. Der fotografischen Avantgarde ging es um Autonomie und Eigenständigkeit des Lichtbildes – abstrakt und losgelöst vom Auftrag der »Abbildung«. Der erste Fotograf, der das formulierte, war 1916 der Engländer A. L. Coburn: »Konzentration auf die Form, nicht auf die Atmosphäre.« Das Konzept einer »konkreten«, auf sich selbst verweisenden Fotografie entstand. Eine Fotografie der Fotografie.

L. Moholy-Nagy war einer ihrer Pioniere mit dem Versuch, die bildnerischen Mittel der noch immer von der Aura der »Dunkelkammer« begleiteten Fotografie offenzulegen und für jedermann verfügbar zu machen. Er wollte ihr »Geheimnis« lüften, den künstlerischen Vorgang enträtseln. Moholy-Nagy schuf abstrakte Bilder. Lichtkompositionen, die man als Anzeichen für einen neuen Umgang mit dem Medium lesen und als Symptome einer bildnerischen Auseinandersetzung mit dem Unbekannten deuten kann.

ANALOGE UND DIGITALE FOTOGRAFIE

Trotz erheblicher Unterschiede nach Inhalt und Form beruhen alle Bilder des bisherigen Fotosystems auf einem gemeinsamen physikalischen Prinzip: dem Licht als Träger der Information. Fotos sind Folge optisch gelenkter elektromagnetischer Strahlung, die auf strahlungsempfindlichem Material fixiert wird. Das gilt für die Kamerafotografie ebenso wie für die abstrakteste Lichtkomposition. Diese so selbstverständliche Feststellung ist erneut wachzurufen angesichts der digitalen Erweiterungen, denen sich das Medium Fotografie heute gegenübersieht. Der fotografische Prozeß wird mit einem anderen, fotofremden Element verbunden: mit einer Rechenoperation.

Schon jetzt geht die Realität der analogen, »natürlichen« Bilder in der Realität der digitalen, »künstlichen« auf. Das kalkulierte Bild führt zum Verschwinden der ursprünglichen Fotografie. Es setzt sich aus triftigen Gründen immer mehr durch – dazu gehören ökonomische Gründe ebenso wie ökologische und ästhetische.

Das Foto mutiert zu einem linearen Medium: Ein Bild ist nicht mehr »mit einem Mal« da, sondern es wird Punkt für Punkt und Zeile für Zeile in einen elektronischen Datenträger eingelesen. Sichtbar ist es zunächst nur auf dem Bildschirm des Monitors, wo es – ein Vorteil – sofort kontrolliert und bearbeitet werden kann. Und obwohl die Ergebnisse analoger und digitaler Fotos bei oberflächlicher Betrachtung kaum voneinander zu unterscheiden sein mögen: die digitale Fotografie ist etwas grundsätzlich anderes. Sie ist kein Lichtbild, sondern ein Rechenbild auf der Grundlage der Mathematik. An der Schnittstelle zwischen dem analogen Bild, das in der Kamera entsteht, und seiner Digitalisierung im Rechner gibt die Fotografie ihren Geist auf.

Doch auch hier ist noch zu unterscheiden: Beim Gebrauch der digitalen Kamera spielt die fotografische Optik nach wie vor eine zentrale Rolle. Beim digitalen »Bild«, das durch das Einlesen (das »Scannen«), eines Fotos in einem Rechner entsteht, sieht es anders aus. Im ersten Fall ist der Unterschied gegenüber dem konventionellen Foto nicht so gravierend. Der fotochemische Datenträger (die »Schicht«) wird durch einen elektronischen Chip ersetzt. In beiden Fällen schreibt sich das Licht in den Träger ein. Auch stehen beide dem gestaltenden Zugriff offen, wobei in der digitalen Fotografie die zuvor getrennten Arbeitsschritte Aufnahme und Bildbearbeitung mehr und mehr zusammenrücken. In der Studiofotografie können sie zu einem einzigen ineinandergreifenden Vorgang werden. Dennoch ist es angemessen, hier weiterhin von »Fotografien« zu sprechen, da es sich um in erster Linie optisch erzeugte Abbildungen handelt.

Durch das Scannen dagegen stirbt das Foto. Es wird punktiert, linearisiert, in Reihe geschaltet und damit seiner Komplexität beraubt. Ihm wird Gewalt angetan. Sein Datensatz ist jeder Veränderung zugänglich – ohne daß dies nachvollziehbar wäre. Über das Internet kann es leicht versendet werden, der Fremdnutzung des Fotos ist so kaum eine Grenze gesetzt. Das galt zwar prinzipiell auch schon für das konventionelle Foto mit seiner chemischen Speicherung. Aber die Vorgänge waren nachweisbar, Retusche und Montage waren ersichtlich. An dieser Schnittstelle endet das »Foto«. Es wäre angemessener, ab jetzt von digitalen »Bildern« zu sprechen.

EINBILDUNG

Das digitale Bild ersetzt hier das Lichtbild. Begriffe wie »Picture Processing«, »Image Processing«, »Digital Imaging« treten an die Stelle der »Abbildung«. Die Auflösung des Scanners schließt die Auflösung des Fotos ein. Das Reale weicht dem Kalkulierten, das jetzt das eigentlich Reale wird. Das »Foto« wird zu einer Einbildung.

Glaubwürdig ist jetzt nur noch das Bild als Bild im Zusammenhang mit anderen Bildern und Texten. Es geht nicht mehr um das Bild als Abbild der äußeren Wirklichkeit, sondern um das Bild als Abbild einer Vorstellung. Die digitale Fotografie ist eine im ursprünglichen Sinn eingeschränkte, aber zugleich um einen entscheidend neuen, fotofremden Faktor erweiterte Fotografie. Sie scheint in absehbarer Zeit aus den genannten Gründen zum Normalfall zu werden. Das bearbeitete Foto ist in zunehmendem Maße das erwartete. Nicht das »richtige«, sondern das »falsche« Foto ist das Richtige. Aus Sicht der reinen Fotolehre wird der geschilderte Prozeß schmerzlich empfunden. Tatsächlich geht ja ein hohes Ideal verloren: Beweiskraft. Dem Bilddokument folgt die Bilderfindung. Wahrheitsanspruch und Wahrheitsgehalt beider Bildarten sind jedoch nach dem bisher Gesagten prinzipiell gleich hoch oder gering anzusetzen. Das Foto war stets ein Produkt aus Idee und Erlebnis, Vorstellung und technischem Material . Es war und ist etwas Hergestelltes, ein Konstrukt, eine besondere Art der Veranschaulichung der äußeren und inneren Verhältnisse der Gegenstände, auf die die Kamera gerichtet war. Es war und ist ein Spiegelbild des Menschen, der den Prozeß in Gang setzt, ihn lenkt und realisiert. Und es war und ist ein untrüglicher Abdruck des Apparates, der auf jedem seiner Bilder seine besondere Spur hinterläßt.