Magazin #32

Im Schatten des Vergessens

Mit dem Projekt »Shadow Of The Condor« spürt der Fotograf João Pina das Leid auf, das Killerkommandos südamerikanischer Diktaturen hinterlassen haben – von der Geschichte und den Medien vergessen. Ihm blieb die Finanzierung per Crowdfunding

Text – Jochen Siemens

»Wir Fotografen«, sagte Henri Cartier-Bresson einmal, »haben ständig mit Dingen zu tun, die unaufhaltsam verschwinden. Wenn sie einmal verschwunden sind, kann man sie durch nichts in der Welt wieder zurückholen.« Auch die Fotografie kann das Verschwinden nicht aufhalten, aber sie kann etwas retten. Einen letzten Moment, ein Zeugnis, einen Beweis, ein Bild eben. Die Welt würde heute anders aussehen, wenn sie die Fotografie nicht hätte. Sie ist Teil ihres Gedächtnisses. Im Japanischen gibt es zum Beispiel den Glauben, dass etwas nicht existiert hat, wenn es kein Bild davon gibt. Was die vielen fotografierenden Japaner erklärt, die man überall sieht. Sie halten etwas fest, ein Stück Erleben, oder besser, ein Stück von ihrem Leben. Man muss das ein wenig vorausschicken, bevor man von João Pina erzählen kann, einem Portugiesen, der 1980 in Lissabon geboren wurde.

Er kam in einem Land zur Welt, in dem die Erinnerung an die grausamen Jahre seiner Geschichte am Verschwinden war. Das war 16 Jahre nach der sogenannten Nelken-Revolution. Damals beendeten junge Offiziere der Armee mit einem Putsch die 48 Jahre dauernde, längste Diktatur Europas und stießen die rostigen Gittertore des Gefängnisses Portugal endlich auf. Die neue Freiheit, der Fortschritt und der Puls einer neuen Generation ließen Portugal in die Zukunft eilen. Wenige warfen noch einen Blick zurück, er könnte schmerzhaft sein, er könnte Täter und Opfer noch einmal erfassen und alte Fragen wie Wunden wieder aufreißen. Nichts in der Weltgeschichte will oder soll so schnell vergessen sein wie eine Diktatur. João Pina spürte das schon als kleiner Junge. Er saß oft bei seinen Großeltern und nur zaghaft erzählten sie von ihren Jahren im Gefängnis, von der Folter und den Drohungen. Zweimal war sein Großvater, ein Kommunist, geflohen und jedesmal wieder holten sie ihn in Ketten zurück. Und sie erzählten von denen, die sie verhaftet und geschlagen hatten, Menschen die nun auch irgendwo in der Stadt im neuen Portugal lebten. »Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, schenkte mir meine Großmutter meine erste kleine Kamera«, sagt Pina, »und ich fotografierte alles, was ich sah.« Es war schon damals der Impuls, irgendetwas vom Verschwindenden festzuhalten, und João Pina entdeckte dafür seine Kamera.

Das war für den Jungen ein irgendwie einsames Hobby, denn »Portugal hatte keine große Fotografenkultur«, wie er sagt. Und auch später, als Pina immer intensiver fotografierte und darin mehr als ein Hobby sah, »schaute ich mir in den Läden zwar Foto-Zeitschriften an, aber das waren Surf-Magazine. Ich interessierte mich mehr für das, was man sah als dafür, wie die Fotos gemacht waren.« Doch er fotografierte seine Großeltern, wenn sie erzählten und er spürte, dass er mit den Bildern auch ihre Erinnerungen fotografierte. Jahre später macht der mittlerweile angesehene junge Fotograf Pina daraus sein erstes Buch. Er fährt in den Norden Lissabons nach Peniche und geht in das berüchtigte ehemalige Gefängnis, in dem sein Großvater von den Beamten der PIDE, der ehemaligen Geheimpolizei, geschlagen wurde. Er sucht und besucht andere ehemalige Häftlinge, zeigt ihre Verhaftungsfotos und fotografiert sie. Man sieht ihre Gesichter und die Furchen und Narben, die ihre Geschichte gegraben haben. Und er fotografiert in Peniche den Innenhof, den einzigen Flecken Freiheit, den die Gefangenen beim Hofgang hatten. »Por teu livre pensamento« heißt das Buch und ist ein Stück vom Gedächtnis Portugals.

João Pina ist heute 31 und gehört zu einer neuen Generation von Reportage- und Dokumentarfotografen. Aus dem ursprünglichen Impuls, mit der Kamera etwas vor dem Verschwinden und Vergessen festzuhalten, hat Pina einen nicht nur technisch bemerkenswerten Stil, sondern eine Handschrift in der Fotografie gemacht. Er war in Afghanistan, in den Drogenvierteln von Rio oder in allen Ländern Arabiens, als der politische Frühling 2011 ausbrach. Und auch wenn es alles Krisenpunkte der Welt waren,wäre es falsch, Pina einen Kriegsfotografen zu nennen. Pina, wie auch der Italiener Paolo Pellegrin, sind Fotografen eines anderen Blickes. Sie suchen nicht den Pulverdampf und die Granatenkrater, sondern sie suchen jene, die solche Kriege führen und deren Opfer werden. Schon Robert Capa wusste, dass man Krieg als solchen nicht fotografieren kann, denn was sagen Bilder von Panzern, Raketen und Trümmern schon aus? Nichts, sie sind ein gleichgültiger Bilderteppich für die Nachrichtenschleifen von CNN, so wie das Satellitenbild in Wahrheit wenig vom Wetter erzählt. João Pina macht andere Bilder, er fokussiert die Schärfe seiner Bilder auf die Menschen, mehr noch, seine Kamera sucht das Detail in der Mimik und im Blick Einzelner.

Technisch arbeitet Pina dabei in radikaler Schärfe und Unschärfe und oft in Schwarzweiß, was den fokussierenden Effekt seiner Bilder, manchmal mit Tilt/Shift-Objektiven aufgenommen, noch verstärkt und irritieren kann, denn neuerdings sieht man die Tilt/Shift-Technik als trendige Werbeoptik des Spielzeugeisenbahn-Effektes. Welche Kraft die Fokussierung in Wahrheit haben kann, zeigt Pina in seinen Bildern der ägyptischen Revolution oder in seinem Projekt über die Reste der revolutionären Agrarreform in Portugal 1974/75. Und wieder ist es dabei nicht das bloße Bild, das ihn interessiert, sondern »ich versuche zu verstehen, was die Menschen vor meiner Kamera machen und warum sie es machen.« Es ist eine Fotografie, in der Bilder schnell entstehen können, die aber Zeit braucht, die Bilder werden zu lassen. »Es hat keinen Sinn irgendwo hinzufahren, die Kamera auszupacken, in’s Geschehen zu halten und wieder zu verschwinden«, sagt Pina. »Ich verbringe viel Zeit damit, an den Orten wo ich bin, vorbereitet zu sein, das Terrain, die Aura und die Stimmung zu kennen«, sagt er, »aber genauso wichtig ist es, den Menschen immer zu zeigen: Ich bin Fotograf, ich mache Bilder von euch.« Es sind Orte und Momente höchster Intensität, an denen sich Pina bewegt, es geht um Macht und Ohnmacht, Zukunft und Vergangenheit und, ja, es geht oft um Leben und Tod. Das öffentliche Auge eines Fotografen, eines Zeugen, steht dabei in einem intensiven Spannungsfeld zwischen denen, die Bilder verhindern wollen, und denen, die Bilder benutzen wollen. Längst hat sich in Krisengebieten ein mediales Verhalten gebildet, das Aufstände, Razzien oder militärisches Muskelspiel inszeniert. Für Fotografen ist es nicht immer einfach, das voneinander zu unterscheiden. »Ich bin nicht naiv, ich weiß auch, dass meine Anwesenheit Situationen verändern kann. Das muss man spüren und abwarten, irgendwann vergessen die Menschen die Kamera auch wieder«, sagt er. Außerdem, »habe ich viel gesehen, was ich nicht fotografiert habe. Entweder war es der falsche Moment oder es wäre ein falsches Bild geworden.«

Gut, aber liegt die Entscheidung über ein falsches oder nicht falsches Bild nicht auch in der Entscheidung, von welcher Seite man fotografiert? Von der Seite der Opfer oder der Täter, die manchmal identisch sein können? »Es ist wichtig, nicht politisch zu fotografieren«, sagt Pina, »ich suche Dokumente, nicht Meinungen. Deshalb fotografiere ich Opfer wie Täter mit demselben Respekt, auch wenn es manchmal schwer fällt, weil ich selbst natürlich eine Meinung habe zu dem was ich sehe.« Es hat eine selten gewordene Bedachtsamkeit mit der João Pina seine Arbeit schildert, eine Bedachtsamkeit, im immer schneller werdenden Geschäft mit Bildern. Jeder Konflikt der Welt wird heute von Fotografenschwärmen abgegrast, die Bilder sind Sekunden später über Agenturen auf der ganzen Welt verfügbar, es sind Schnappschüsse, in der Eile nicht durchdacht und oftmals ohne Entsprechung zum wirklichen politischen Geschehen. Das Handwerk von Fotografen wie Pina hat es da schwer, auch und vor allem ökonomisch. Nein, heute leistet es sich kaum noch ein Magazin einen Fotografen sechs, acht Wochen oder Monate in einem Thema zu lassen, sagt er. Der recherchierende Dokumentarfotograf ist eigentlich als Beruf verschwunden. Das ist eigentlich absurd, denn der Bedarf nach bedachten Bildern, die den Moment des Entstehens überleben und nicht vom nächsten Tag und der nächsten Katastrophe verdrängt werden, ist größer denn je.

Es ist aber auch das Misstrauen einer Bilderindustrie, dass Fotos selbst wieder eine Nachricht, eine Geschichte und eine Aufmerksamkeit erzeugen können, auch wenn das Fotografierte nicht ganz oben im Kurs der hysterischen Nachrichtenbörse steht. João Pina weiß um die Vergeblichkeit, wenn er von seinem aktuellen Projekt »Operation Condor« erzählt und sich vorstellt, er würde in einem Magazin dafür werben. »Bilder über die ehemaligen Diktatoren Südamerikas und den geheimen Plan, die politische Opposition zu vernichten. Sie nannten es ›Operation Condor‹ und bis 1978 wurden 60 000 Menschen ermordet. Brasilien, Chile, Argentinien, Nicaragua, sechs Länder. Ich arbeite seit vier Jahren daran und mir fehlen noch zwei. Wer…«, er lacht, »…kann oder will das heute noch bezahlen?«

Die, die es sehen wollen. Und die wollen, dass solche Erinnerungen nicht einfach verschwinden. João Pina finanziert sein »Condor«-Projekt über die Crowdfunding-Initiative Emphas.is, eine neue Form der Reportage-Finanzierung. Auf der Website von Emphas.is stellen Pina und andere Fotografen ihre Vorhaben vor und Unterstützer können mindestens zehn Dollar investieren. Kommt ein Projekt aus Geldmangel nicht zustande, werden die Gelder zurückgezahlt. Kommt es zustande, lassen die Fotografen die Unterstützer am Entstehen teilhaben. Sie bloggen, schreiben E-Mails und zeigen erste Bilder. Wichtig ist, dass die Emphas.is-Gelder nur die Kosten des Projektes finanzieren, aber nicht den Fotografen. Ist ein Projekt abgeschlossen, haben die Unterstützer vier Tage ein Exklusivrecht daran, danach kann der Fotograf es zur Veröffentlichung freigeben. »Emphas.is ist heute der einzige Weg, solch langfristige Geschichten zu finanzieren«, sagt Pina, »anders geht es nicht mehr.« Und auch wenn Pina, wie er sagt, nicht politisch fotografiert, könnten seine »Condor«-Bilder politische Folgen haben. »Es gibt Menschenrechtsorganisationen, die immer noch nach den Verantwortlichen der Morde suchen und sie vor Gericht stellen wollen. Die Bilder können dabei helfen«, sagt Pina. Auf alle Fälle werden sie etwas leisten, wofür die Fotografie erfunden wurde: Das Vergessen zu verhindern.

Hintergrund
»OPERATION CONDOR«

»Operation Condor«, so hieß der geheime Militärplan von sechs lateinamerikanischen Staaten. 1975 – zum Höhepunkt des Kalten Krieges – starteten Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay und Uruguay, die unter der Herrschaft von Militärregimes standen, einen Vernichtungskrieg gegen die Linke in ihren Ländern. Mit der Operation Condor schaffte man »politische Gegner« aus dem Weg. Sie verschwanden meist spurlos. Während der drei Jahre, in denen der Plan umgesetzt wurde, kamen mindestens 60 000 Menschen ums Leben.

João Pina arbeitet seit 2005 an dem Thema, hat bisher mindestens 15 Wochen dafür fotografiert, hat mehr als 50 Interviews mit Betroffenen geführt und darüber hinaus noch unzählige Informationsgespräche. »Bevor ich die Locations und Orte besuche, informiere ich mich intensiv über die einzelnen Diktaturen, was sie gemeinsam haben und was sie voneinander unterscheidet. Solche Informationen sind reichlich vorhanden, so dass Protagonisten und Orte leicht zu lokalisieren sind«, berichtet João Pina. »Aus diesem Material suche ich mir dann kleine, aber nach meiner Meinung sehr repräsentative Beispiele heraus.« Vor Ort findet er Informanten – ehemalige politische Gefangene, lokale Journalisten, Gerichtsmediziner, Anwälte, Richter – die ihm bei der Recherche und Motivsuche weiterhelfen, ihm immer wieder neue Türen öffnen. Dabei zahlt er nie Informationshonorar. »Ich glaube nicht, dass man Journalismus betreiben sollte, indem man für den Zugang bezahlt«, meint João Pina.

Biografisches
JOÃO DE CARVALHO PINA

wurde 1980 in Lissabon, Portugal, geboren. Mit 18 Jahren begann er bereits als Fotograf zu arbeiten. Für die Umsetzung seines Projektes »Operation Condor« schaffte sich Pina ab 2007 eine Basis in Buenos Aires, Argentinien, von der aus er auch Assignments durchführt. Seine Geschichten führten ihn in Länder wie Argentinien, Brasilien, Bolivien, Chile, Kuba und Paraguay. Er ist aber auch intensiver Beobachter des »Arabischen Frühlings« und dokumentierte verschiedene Anlässe in Tunesien, Ägypten und Libyen. Seit 2003 ist João Pina Mitglied der portugiesischen Fotogruppe »Kameraphoto«.

Ausstellungen & Preise
Das Thema seines ersten Buches war inspirierend für eine Kampgane von Amnesty International, die ihm 2011 einen »Lion d’Or Award« beim Lions International Festival of Creativity in Cannes einbrachte. Veröffentlichungen in: The New York Times, The New Yorker, Time Magazine, Newsweek, Stern, GEO, El Pais, EPs, La Vanguardia Magazine, D Magazine, Io Donna, Days Japan, Expresso and Visão. Pina-Ausstellungen liefen in New York (ICP and Point of View Gallery), London (Ian Parry Award), Tokyo (Canon Gallery), Lissabon (Galeria and Casa Fernando Pessoa) und Oporto (Centro Português de Fotografia) sowie in Perpignan (Visa pour L’Image).

Bücher
2007 veröffentlichte er sein erstes Buch »Por teu livre pensamento«, das die Geschichten von 25 ehemaligen politischen Gefangenen in Portugal nachzeichnet.

www.joao-pina.com

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Jochen Siemens

ist Autor des Magazin Stern im Ressort Kultur und Unterhaltung. Er betreut die Buchreihe »Stern Fotografie« und schreibt darin seit einigen Jahren über die Arbeit berühmter Fotografen.