Magazin #02

Jedes Bild ist eine Lüge

Durch die Möglichkeiten der digitalen Bildverarbeitung sehen viele Fotografen die Glaubwürdigkeit der Fotografie gefährdet. Doch wer als Fotograf glaubt, objektive Zeugnisse zu liefern, entlarvt sich als Analphabet unserer Zeit der Bilderflut

Text – LARS BAUERNSCHMITT & ALFRED BÜLLESBACH

Der erste Mensch auf dem Mars. Milliarden Fernsehzuschauer, Amerika jubelt. Beeindruckende Bilder. Nur: Der Astronaut bewegt sich nicht auf der Marsoberfläche, sondern in einer staubigen, gut ausgeleuchteten alten Fabrikhalle im Westen der USA. Keiner merkt’s? Doch, einer. Er ist der Held des Spielfilms »Capricorn«. Vor fast 20 Jahren inszenierte Hollywood die inszenierte Wirklichkeit. So spannend die Geschichte, so schlicht die Botschaft: Du darfst dem Bild nicht trauen.

Was als Erkenntnis über Fotografie und Film bereits damals ein alter Hut war, wird heute wieder in Frage gestellt. Der Glaube an das Foto als Dokument feiert zur Zeit eine Wiedergeburt. Schuld daran ist der Einzug der digitalen Technik in der Fotografie. Mit der digitalen Bildbearbeitung sehen viele Mahner die Glaubwürdigkeit der Fotografie gefährdet. Die neue Technik, so die Befürchtung vieler, mache die Wahrheit zum Spielmaterial für Softwarefreaks und Meinungsmacher.

Der Gedanke ist ebenso einfach wie ignorant: Ein Foto ist ein Dokument, und wenn es digital verändert wird, erfolgt die Manipulation der Wirklichkeit. Doch je öfter den Computerbildern der Stempel der Verfälschung aufgedrückt wird, desto »ehrlicher« erscheinen die analogen Fotos.

Wer als Fotojournalist glaubt, objektive Zeugnisse zu liefern, sollte nicht als Chronist auf die informationssuchende Menschheit losgelassen werden. Fotos sind immer Interpretationen von Ereignissen und Situationen. Seit der ersten Belichtung vor über 150 Jahren bilden Fotografen die Realität so ab, wie sie diese persönlich empfinden, ob sie wollen oder nicht.

Die Herstellung und Verbreitung von Fotografien ist ein langer Prozeß der Interpretation und Manipulation. Vor, während und nach der Aufnahme findet die Bewertung von Ereignissen statt, wird das Foto zum Rohstoff der Meinungsmacher. Am Ende liegt es bei den des Bilderlesens unkundigen Zeitungskäufern, sich die Wahrheit über ein Ereignis aus einem bereits vielfach interpretierten Foto zu erschließen.

Wer heute die Manipulationsmöglichkeiten der Fotografie problematisiert, ohne auf den Entstehungs- und Veröffentlichungsprozess einzugehen, handelt nicht nur nachlässig, sondern extrem gefährlich. Fotos müssen nicht beschnitten, verfremdet oder montiert werden, um Falschinformationen zu transportieren. Jedes noch so unschuldig wirkende Lichtbild hat die Chance, die größte Lüge an den Betrachter zu bringen, mit oder ohne bewußtem Zutun des Fotografen.

Die Fotos aus dem Golfkrieg waren nicht mit »Photoshop« bearbeitet; die Märchen vom »sauberen Krieg« und der Zeltlagerromantik in der Wüste wurden bereitwillig aufgenommen und verbreitet. Wenn der Umweltminister Klaus Töpfer vor 50 Journalisten im Rhein baden geht, dann soll uns das analoge Foto glauben machen »Der Rhein ist sauber!«. Als Präsident Ronald Reagan sich in Klassenzimmer setzte und sich während seiner Gespräche mit Schülern und Lehrern abbilden ließ, wurde seine Sorge ums Bildungswesen glaubhaft in die Medien getragen. Die durch ihn soeben vorgenommene Kürzung des Bildungsetats war verdrängt. Dokumentiert wird hier nur, wie sich Fotografen und Kameraleute instrumentalisieren lassen.

Täglich werden den Fotografen Bilder und Situationen präsentiert, die nur entstanden sind, um fotografiert und veröffentlicht zu werden. Nachrichten werden gemacht und gezielt inszeniert. Je plakativer, desto gieriger stürzen sich die Bildmedien auf sie. Inhalte verkümmern zu Gesten, Symbole werden für das Eigentliche genommen.

Mittlerweile lebt ein ganzer Wirtschaftszweig davon, die Medien für die Darstellung und Durchsetzung bestimmter Einzelinteressen zu benutzten. Keine Partei, keine Bürgerinitiative kommt heute ohne Medienfachleute aus, die auch in der Gestaltung von Fotos erfahren sind. Da den Betrachtern der Fotos der Entstehungszusammenhang meistens unbekannt ist, bleibt als einziges Gegengift gegenüber Inszenierungen nur das kritische Bewußtsein der Bildurheber und die Erziehung der Betrachter.

Welche fatalen Konsequenzen eine unkritische und unreflektierte Verwendung von Bildmaterial haben kann, sieht man in erschreckend vielen Geschichtsbüchern. Zur Illustration von Artikeln zum »Dritten Reich« werden noch immer Fotos verwendet, die der Hitlerfotograf Heinrich Hofmann seit Mitte der zwanziger Jahre zur Werbung für Hitler machte. Die »Aufarbeitung« der Geschichte geschieht mit Hilfe von Propagandabildern, die aufgrund ihrer technisch apparativen Herstellung als Dokumente gesehen werden. Auch 50 Jahre nach Kriegsende wirken diese Fotos meistens im Sinne ihrer Urheber, denn ein Hinweis auf die Entstehungsbedingungen dieser Fotos findet sich so gut wie nie.

Vielleicht führt die Angst vor den digital manipulierten Fotos endlich zu einem grundsätzlich kritischen Umgang mit dem Medium. Es bleibt zu hoffen, daß die inhaltlich-theoretische Auseinandersetzung mit der Fotografie bald einen ähnlichen Fortschritt erreicht wie die technologische Entwicklung.

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Lars Bauernschmitt & Alfred Büllesbach
sind Geschäftsführer der Fotoagentur VISUM in Hamburg.