Magazin #24

Menschen – eine Spurensuche

Die Schweiz, der Ostblock. Südafrika, Australien, Stuttgart: Fotografen reisen von der Gegenwart in die Vergangenheit, vom Leben zum Vergehen. Blättern in neuen Fotobüchern.

Text – Michael Klein-Reitzenstein

Lebensabend mit Herta

Krankheit, Gebrechen, Freudlosigkeit – Assoziationen, die das Stichwort »Alter« oft hervorruft. Andreas Reeg aber hat einen Ort entdeckt, an dem Altern ein positives Lebensgefühl ist.

Vom Alter und jahrzehntelanger schwerer Arbeit gebeugt, schlendert der 88 Jahre alte Hermann Schenkel am Abend über den kopfsteingepflasterten Hof zu den Ställen, um nach den Tieren zu sehen – wie jeden Tag. Hinter ihm, in die Jahre gekommen wie der Alte, erhebt sich trutzig die 300 Jahre alte Scheune.

Hans Bönzli hat für heute sein Tagwerk beendet. Versonnen in das milde Licht des Sommernachmittags blickend, sitzt er auf seiner Feierabendbank, vor ihm das Kofferradio, aus dem leise Volksmusik ertönt.

14 Jahre lang haben Hans Hügli, 98, und die Stute Herta, 30, zusammen gearbeitet. In dieser Zeit sind sie Freunde geworden – nun verbringen sie gemeinsam ihren Lebensabend.

Das Dienstbotenheim Oeschberg bei Bern ist ein außergewöhnliches Altersheim. Es wurde vor 100 Jahren als Altersruhesitz für pensionierte Knechte und Mägde gegründet. Auf dem über 500 Jahre alten Hof wird immer noch Landwirtschaft betrieben. Es gibt Pferde, Kühe, Schweine und Federvieh. Ein Obstgarten gehört dazu, Gemüseanbau, eine Beerenplantage und ein Waldstück sowie eine Hauswirtschaft mit großer Küche.

Das Heim wird von seinen etwa 45 Bewohnerinnen und Bewohnern und – inklusive Heimeltern – zehn Helfern eigenständig bewirtschaftet. Die Mitarbeit ist für die Bewohner freiwillig, aber erwünscht. Jeder, der gesundheitlich in der Lage ist, kann ganz nach eigenem Ermessen Aufgaben im landwirtschaftlichen oder hauswirtschaftlichen Bereich übernehmen.

Für die Pensionäre ändert sich beim Einzug daher – im Vergleich zu ihrem früheren Leben – meist wenig, außer: Die Arbeit ist freiwillig. So leben die Alten hier in dem Bewusstsein, gebraucht zu werden und einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen. Und deshalb klappt das Zusammenleben im Großen und Ganzen gut. Aktivierungstherapien oder ähnliche Maßnahmen aus der Altenpflege sind hier unbekannt.

Über eine Geschichte, die Andreas Reeg für die Du fotografiert hatte, lernte er das Dienstbotenheim Oeschberg kennen und beschloss, diesen beeindruckenden Ort und seine Bewohner zu porträtieren. Über mehrere Jahre hinweg fuhr er immer wieder für längere Zeit dort hin. Er besuchte die alten Mägde und Knechte, unterhielt sich mit ihnen, lernte sie näher kennen und freundete sich mit einigen an. Dann und wann drückte er auf den Auslöser und machte seine Fotos. So ist eine Arbeit entstanden, die sich bei aller spürbaren Vertrautheit zwischen den Bewohnern und dem fotografierenden Besucher durch eine respektvolle Distanz auszeichnet.

Durch seine behutsame Herangehensweise ist es Andreas Reeg gelungen, die besondere Atmosphäre von Harmonie und Ausgewogenheit – diese Einheit von Mensch, Tier und Ort – in passende Bilder umzusetzen. In leisen Fotografien, die in weiches Licht getaucht sind, kann der Betrachter diese liebenswerten Alten auf ihrem außergewöhnlichen Altersruhesitz kennen lernen. Über allem liegt eine leichte Melancholie und große Zufriedenheit. Hinfälligkeit, Krankheit und der Tod haben hier ihren Schrecken verloren.

Andreas Reeg
Knechte und Mägde. Das Dienstbotenheim Oeschberg
Zürich: Benteli 2006. Vorwort von Walter Däpp. 116 S. mit 60 Farbfotos. 28 Euro

Das Hotel der Schimmelpilze

Abstecher ins Vergessen und in den Verfall. Stuttgarts ungewöhnlichster Bunker.

Die Hauptrollen in diesem erstaunlichen Buch spielen ein ehemaliger Luftschutzbunker und Mikroorganismen jeglicher Couleur und Erscheinungsform. Unter dem Vorplatz des Stuttgarter Rathauses liegt das ehemalige »Hotel am Marktplatz« – ein Bunkerhotel, das von 1945 bis 1985 Gäste beherbergte.

Der Physiker und Fotograf Prof. Werner Lorke und der Architekt und Stadtplaner Jürgen Esefeld haben diesen Ort – seit 20 Jahren dem Vergessen und Verfall preisgegeben – wiederentdeckt. Neue Bewohner haben diesen Lebensraum erobert. Aspergillus, Fusarium, Trichoderma und Mucor, alle aus der großen Familie der Schimmelpilze.

Schon nach wenigen Stufen in die Dunkelheit umfängt einen modrige, feuchtwarme Luft. Nur in Schutzkleidung und mit Atemmaske kann man sich dort aufhalten. Wasser steht in den Räumen, alte Tapeten hängen in Fetzen von den Wänden, Teppichreste faulen vor sich hin. Ein Treppenaufgang endet im Nichts, herablaufendes kalkhaltiges Wasser hat die Stufen im Lauf der Jahre fast verschwinden lassen. Überall schwärzliche Flecken und Schlieren; Hinterlassenschaften ehe­maliger Bewohner bieten für die neuen Nahrung im Überfluss.

Der »Rundgang durch den Bunker« – das erste der drei fotografischen Kapitel – zeigt in ästhetisch nüchternen Dokumentaraufnahmen die Räume und die sich überlagernden Spuren, die die Zeit hinterlassen hat.

Blättert der Leser weiter, glaubt er, in die »Fotografische Mustersammlung« eines obskuren Tapeten- und Lampenherstellers gelangt zu sein. Deckenleuchten wie Ufos mit 70er-Jahre-Bemalung vor Wandbeschichtungen, auf die jede moderne Großstadtbar neidisch wäre.

Wie Satellitenaufnahmen von einem fremden Planeten kommen die Aufnahmen im letzten Kapitel daher. Weiße Haufenwolken scheinen über orangerote Landschaften zu ziehen. Wie das Delta eines Flusses breiten sich die Fäden des Ständerpilzes über die weite Ebene einer Ornamenttapete aus. »Makro« beinhaltet Nahaufnahmen der verschiedenen Pilzarten auf ihren Untergründen.

Ornamente, Flächen und Strukturen verschmelzen in diesen gleichermaßen wissenschaftlich-dokumentarischen wie künstlerischen Aufnahmen zu einer fas­zinierenden Ästhetik des Vergänglichen.

Werner Lorke
Bunkerbiotop
Hg. v. Jörg Esefeld und Werner Lorke. Stuttgart: edition esefeld & traub 2006. 145 S. mit zahlr. Farb- und Schwarzweißfotos sowie 26 Farbtafeln. 49 Euro

Ikonen verlorener Macht

Von der Gegenwärtigkeit des Vergangenen – Bilder von Uli Bohnens Reisen durch den ehemaligen Ostblock.

Uli Bohnen, Jahrgang 1948, ist Kunsttheoretiker, Ausstellungsmacher, Sammler und Fotograf. Seit 1992 lehrt er als Professor für Kulturgeschichte und Ästhetische Theorie an der FH Darmstadt. Im Rahmen seiner künstlerischen Arbeit und seiner Sammlertätigkeit führten ihn seit 1994 zahlreiche Reisen in osteuropäische Länder, die ehemalige DDR sowie nach Kuba und Mexiko. Daneben bereiste er auch Westeuropa sowie die alte BRD.

Sein fotografisches und sammlerisches Augenmerk richtete Bohnen dabei in den Ländern des früheren Ostblocks vor allem auf die Machtinsignien der ehemals kommunistischen Regime und fand dort bemerkenswerte, kuriose, manchmal auch traurige Motive für sein Projekt. So zeigt eine Doppelseite des Katalogs das Reiterstandbild eines alten Königs in Tbilisi, Georgien. Je nach Aufnahmestandpunkt des Fotografen – oder politischem Standpunkt des Betrachters? – weist sein ausgestreckter Arm auf den Sowjetstern, der »Andropovs Ohren« krönt, oder er zeigt auf die Satellitenempfangsschüssel auf dem Dach eines Hochhauses.

Stalin, überlebensgroß in Stein gemeißelt für die Ewigkeit – dazu verdammt, auf die Ikone des ehemaligen kapitalistischen Klassenfeindes zu blicken, eine riesige Coca-Cola-Werbetafel.

Der Bedeutungswechsel der Dinge, die Veränderungen in ihrem Umfeld und die Wandlung in der Rezeption durch die Bevölkerung haben Uli Bohnen interessiert. In oft doppelbödigen und mehrschichtig konstruierten Bildern zeigt er dem Betrachter mit kritisch-ironischem, manchmal auch sarkastischem Blick, wie diese Dinge im Laufe weniger Jahre profanisiert und/oder kommerzialisiert wurden. Ihrer früheren reliquienartigen Bedeutung entleert, wurden sie zu Erinnerungsstücken in Museen ewig Gestriger, zu kuriosen Devotionalien in Trödelläden oder zu absurdem touristischem Kitsch an den Ständen der Straßenhändler.

Analogien fand Bohnen in vielen westeuropäischen Ländern bezogen auf die christliche Symbolik. »Ratz-fatz zum Petersplatz für 29 €. Je früher umso günstig«, verspricht eine große Fluggesellschaft in dummerhaftigem Werber-Deutsch.

Direkt darunter ein Schild – Sackgasse.

Ein lebensgroßes Kruzifix an einer Straße, flankiert von Reklametafeln mit Werbung für »Gösser«-Bier und »Darling«-Katzenfutter. Im Osten wie im Westen ist er auf diese Brüche, Konflikte und Widersprüche im Umgang der Menschen mit ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Religion gestoßen. Dies hat Uli Bohnen in symbolhafte Bilder gekleidet, die – oft witzig, unterhaltsam und zugleich tiefgründig – den Wandel der Werte und die gesellschaftlichen Veränderungen zeigen.

Uli Bohnen
Paradise L’Ost.
Hg. vom Von-der-Heydt-Museum Wuppertal. Vorwort von Sabine Fehlemann, Texte von Klaus Honnef und Bazon Brock, Gespräch zwischen Antje Birthälmer und Uli Bohnen. Stuttgart: Hatje Cantz 2006. 160 S. mit 120 Farbfotos. 25 Euro

Der Truck als Lebensform

Ölflecken, Schweißflecken, Stoßstangen: Alexander Babic war mit der Kamera in Australien und Südafrika unterwegs – und hat Trucks und ihre »Bewohner« vor die Kamera geholt.

Harte Männer. Die T-Shirts verschwitzt und voller Löcher. Ihre sonnenverbrannten Arme hängen etwas linkisch herab, als wüssten sie nicht, wohin damit, wenn kein Lenkrad in der Nähe ist. Eingerissene Nägel mit Trauerrändern und Schmierflecke zeugen von Reparaturarbeiten am Straßenrand. Die Gesichter gefurcht und gezeichnet vom Leben hinter dem Steuer.

Mit zusammengekniffenen Augen blickt ein Mann skeptisch und selbstbewusst vom Buch-Cover. Er ist einer der Fahrer riesiger Überlandtrucks, die Alexander Babic in Australien und Südafrika fotografiert hat. So sind sie diesem Jungen, der mit seiner Kamera und einem großen weißen Bettlaken daherkam, vor das Objektiv getreten. Nachdem er ihren Argwohn zerstreut hatte, nahm Babic sie in klassischen, an Richard Avedons In the American West angelehnten Schwarzweißporträts auf. Durch Reduktion auf das Wesentliche ist es ihm gelungen, gleichzeitig die Individualität der Personen hervorzuheben und eine Typologie dieser besonderen Männer darzustellen.

Den Porträts fügte er Frontalaufnahmen der bis zu 70 Meter langen Lastzüge hinzu. Kühlergrills, groß wie die Motorhaube eines Mittelklassewagens. Massive verchromte Stoßfänger sowie mindestens sechs oder acht Scheinwerfer schmücken die Fronten der Ungetüme und lassen ihre Kraft ahnen. Einer hat sich »ABNORMAL« auf die Stoßstange geschrieben.

Die assoziativ zusammengestellten Bildpaare Fahrer/Wagen bricht Babic in der Abfolge des Buches jedoch immer wieder. Doppelseitige Landschaftsaufnahmen und Fundstücke vom Rand der Highways sind ergänzend eingefügt.

Eine einsame Tankstelle in der Nacht in grünkaltem Neonlicht. Der leere Gastraum einer Raststätte mit dem sterilen Charme eines Operationssaals. Öde Parkplätze im Nirgendwo mit verblassenden Schriftzeichen. Auf dem Asphalt ein schillernder Ölfleck. Dieser Beruf ist harte und einsame Arbeit, er hat nichts mit Freiheit und Abenteuer zu tun.

Durch Verzicht auf Klischeefotos und eine nüchterne, fast spröde Bildästhetik und gelungene Komposition der Bildfolgen ist Babic eine faszinierende Dokumentation dieser fremden Welt gelungen.

Alexander Babic
Roadshow
Vorwort von Gottfried Jäger. Köln: daab 2006. 120 S. mit 75 ganzseitigen Farb- und Schwarzweißfotos. 39,95 Euro

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Michael Klein-Reitzenstein

leitet die Buchhandlung im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen.