Magazin #08

Mitleid ist das erste Unrecht

Die Agentur Zeitenspiegel stiftet einen Reportage-Preis zu Ehren ihres Mitglieds, der Fotografin Johanna (Hansel) Mieth


Sie war 15 Jahre alt, als sie Mitte der Zwanziger Jahre das schwäbische Remstal verließ, schmächtig, bettelarm und unerfahren, aber vom Willen beseelt, die Welt kennenzulernen. Als sie im Februar 1998 auf ihrer kalifornischen Ranch im Alter von fast neunzig Jahren starb, hinterließ Johanna »Hansel« Mieth ein umfangreiches photographisches Werk – es spiegelt nicht das Amerika der Mächtigen, der Schönen und Reichen, sondern das der Underdogs.

Die Portraits und Reportagen, die sie anfangs als Landarbeiterin, später als Fotografin für das legendäre Life-Magazin machte, zeigen die Zeit der Depression in den Staaten, ohne das Elend der Arbeitslosen, Baumwollpflücker und Slumbewohner zu romantisieren. »Um ein guter Fotograf zu werden, mußt Du fühlen, was Menschen fühlen, wenn sie ganz unten sind«, so ihr Credo. »Sonst macht man kalte Bilder.« Um ihnen gerecht zu werden, verlangte Hansel Mieth, müsse man ihnen Respekt statt Almosen zollen, denn »Mitleid ist das erste Unrecht«. Hansel Mieth wußte aus eigener Erfahrung, was es heißt, bettelarm zu sein. Zur Zeit des »grossen Hungers« nahmen sie und ihr Mann jede Arbeit an, um zu überleben. Sie schrubbten Fußböden, karten Müll weg, vagabundierten auf der Suche nach Jobs über Land, kampierten im Zelt neben Plantagen, auf denen sie Baumwolle, Erbsen und Orangen pflückten. In dieser Zeit behielten sie den Kopf oben, indem sie alles fotografierten, was sie sahen, anfangs mit einer einfachen Kamera, später mit einer gebrauchten Leica. Die Filme entwickelten die beiden Emigranten in einem schwarzen Sack, den Hansel genäht hatte, Abzüge machten sie in Labors befreundeter Kollegen.

Anfang 1937 bekam Hansel Mieth ein Angebot, für das neugegründete Life-Magazin in New York zu arbeiten, das sich für die neue, engagierte Reportagefotografie der jungen Deutschen interessierte. Sie wurde neben Margarete Bourke-White das einzige weibliche Mitglied im Fotografenteam. In den Fünfziger Jahren verloren Hansel Mieth und ihr Mann Otto, inzwischen Weggefährten berühmter Fotografen wie Robert Capa und Eugene W. Smith, ihre Auftraggeber: In der Zeit der blindwütigen Kommunistenhatz Mac Carthys galten sie, so Hansel Mieth, als »Rote, die man zu isolieren suchte und denen man mitleidslos die Lebensgrundlage entzog«. Auch Life habe sich diesem Gesinnungsterror nicht entzogen.

Als die Autorin Ingrid Eissele und Fotograf Uli Reinhardt vor sechs Jahren nach Kalifornien reisten, um Johanna Mieth zu portraitieren, waren Leben und Werk der alten Dame in Deutschland nahezu vergessen. Ihre direkte, schnörkellose Art, die Welt zu sehen, schien nicht mehr zeitgemäß, ebenso ihr Engagement für die Ärmsten der Armen. Der Beitrag über Hansel Mieth erschien 1992 in der Wochenpost und anderen Publikationen und trug dazu bei, ihr Werk bekannt zu machen, ebenso die Präsentation ihrer Bilder vergangenes Jahr beim internationalen Fotografentreffen in Perpignan. Nach dem Tod von Hansel Mieth, seit 1996 Ehrenmitglied von Zeitenspiegel, beschlossen die Mitglieder, in ihrem Namen einen Preis für engagierte Text- und Bildreportagen zu stiften, die 1997 und 1998 in deutschsprachigen Printmedien erschienen sind. Er wird für den kompletten Beitrag (Text und Bild) vergeben und ist mit 10000 Mark dotiert.

Die Jury setzt sich aus folgenden Personen zusammen: Wolfgang Behnken (Art Director, Stern), Christiane Gehner (leitende Bildredakteurin, Der Spiegel), Gabriel Gruner (Auslandsredakteur, Stern), Thomas Kern (Fotograf, Agentur Lookat, Zürich), Ingrid Kolb (Leiterin der Henri-Nannen-Schule, Hamburg), Hans Koschnick (Bürgermeister a.D., zuletzt EU-Administrator von Mostar), Gilles Peress (Fotograf, Mitglied der Agentur Magnum, New York), Alexander Smoltczyk (Autor, Der Spiegel), Erdmann Wingert (Freier Autor, Mitglied von Zeitenspiegel).