Magazin #14

Überwältigendes Epos

Text – Karl Johaentges

»Ausländer«, »Asylbewerber« sind Dauerthemen in Politik und am Stammtisch. Nicht nur in Deutschland. Sebastião Salgados neuester Band Migranten dokumentiert auf überwältigende Weise, unter welchen Umständen diese Menschen hier stranden – und: Wir auf der Wohlstandsseite und in den Friedenszonen des Globus bekommen nur einen Bruchteil all der Tragödien mit, die so viele Menschen aus ihrer Heimat vertreiben.

In Arbeiter dokumentierte Salgado 1993 wie ein Archäologe die letzten Helden der Handarbeit, ein kämpferisches und wehmütig stimmendes Bildepos über die Schinderei der übergroßen Mehrheit der Erdbewohner. In Migranten zeichnet er ein düsteres Bild, ohne Hoffnung fast. So düster eben wie die Folgen dieser weltumspannenden, unaufhaltsamen Völkerwanderung, der Salgado eine ähnliche Zäsur zuschreibt wie dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.

Salgado folgte sechs Jahre lang den weltweiten Flüchtlingsströmen, begleitete Boat People auf ihrem Weg ins Ungewisse, ging in Lager und Slums, stieg auf Güterzüge – und fotografierte. Wie immer in Schwarzweiß und mit einer Intensität und Nähe, die ihresgleichen sucht. Aber es ist nicht die Perspektive des Voyeurs, sondern des Mitfühlenden, des Kämpfers, der angesichts all der Tragik und Grausamkeit selbst die Hoffnung, das Vertrauen in das Wesen des Menschen verliert und wie besessen nach dem Guten im Menschen sucht. Salgados Bildsprache ist unverwechselbar, aber auch ohne Schema. Jede Doppelseite bringt Überraschungen und neue Perspektiven.

Migranten ist wieder ein überwältigendes Epos und verlangte vom Fotografen zweifellos auch eine gewaltige logistische Leistung. Anders als bei seinem Projekt Arbeiter musste Salgado schnell auf aktuelle politische Situationen reagieren, um in Krisenherden vor Ort brandaktuelle Bilder einzufangen. Wenn Salgado (der seit Beginn seiner Fotografenkarriere im Jahr 1973 viel Unglück gesehen hat) im Vorwort betont, dass ihn die Erfahrungen dieses Projekts verändert haben, ist das nicht dahingesagt. Die Bilder sprechen für sich. Auf den ersten Blick wirkt Arbeiter großartiger – wenn man bei all dem gesehenen Elend von »großartig« sprechen kann. Was mich in Arbeiter so bewegte, war der Stolz dieser geschundenen Helden der Handarbeit auf das, was sie leisten. Stolz und Würde sind in Migranten kaum noch zu spüren. Hier sind es nackte Angst, Demütigungen und Erniedrigungen, die aus den Augen der Fotografierten sprechen. Ruanda, Kosovo, Chinesisches Meer, you name it.

Im Begleitband Kinder der Migration porträtiert Salgado die nächste Generation dieser Flüchtlingswellen. Porträts mit direktem Augenkontakt, Bilder vor verschmierten Schultafeln, vor zerschossenen Hauswänden und nackten Füßen im Schnee. Hoffnung spricht nur selten aus diesen Kinderaugen.

Erschienen sind die Bücher von Sebastião Salgado wie bisher bei Zweitausendeins, hochwertig gedruckt im Duoton-Verfahren. Bilderläuterungen finden sich in einem gesonderten Beiheft.

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Sebastião Salgado:

Migranten, 431 Seiten.
Frankfurt/M.: 2001-Verlag 2000.

Kinder der Migration, 112 Seiten.
Frankfurt/M.: 2001-Verlag 2000