Magazin #27

Unsere kleine Farm

Als der Fotograf Scott Strazzante im Mai 1994 das erste Mal die Farm von Harlow und Jean Cagwin in der Nähe von Chicago besuchte, ahnte er nicht, dass der kleine Reportage-Auftrag ihn nicht nur wenige Stunden beschäftigen würde, sondern 14 Jahre – bisher.

Text – Dirk Kirchberg

1994 war die Homer Township noch eine ländliche Gegend, geprägt vom harten Arbeitsalltag auf einem Hof, aber auch fast schon ein ans Klischee der Fernsehserie »Unsere kleine Farm« erinnernde Farmleben mit Tieren und Feldern. Hinter dem Haus direkt die Kornfelder, vor dem Küchenfenster die Kuhweiden.

Die Cagwins lebten in, mit und von der Natur. Die Metropole Chicago war noch weit weg, fast 60 Kilometer. Eine andere Welt, die eine dreiviertel Stunde entfernt lag.

Auf der einen Seite Chicago, die Großstadt, hektisch, eng, schnell und dicht besiedelt. Auf der anderen Seite Homer, weitläufig, ruhig, gelassen, der Nachbar lebte irgendwo da hinten.

Den Fotojournalisten Scott Strazzante führte ein Zeitungs-Job hierher. Nachdem er seine Auftragsfotos im Kasten hatte, fuhr Strazzante immer wieder zur Cagwin-Farm und verbrachte unzählige Stunden damit, die Familie und ihr Leben zu beobachten und zu fotografieren. Die Cagwins davon zu überzeugen, dass er sie nicht bloßstellen, sondern begleiten wollte, brauchte Zeit.

»Die Cagwins mochten es, fotografiert zu werden«, erinnert sich Strazzante, »aber von Zeit zu Zeit war ihnen peinlich, was ich aufnahm. Jean mochte es nie, wenn ich im Haus fotografierte und es nicht aufgeräumt war. Und Harlow mochte keine Fotos, auf denen er alt und müde aussah.«

Harlow und Jean waren die Menschen, bei denen es am längsten dauerte, bis Strazzante sie in intimen Momenten fotografieren durfte. Aber einige Räume im Haus blieben trotz der langjährigen Arbeit und der wachsenden Freundschaft stets ein Tabu. »Ich war nie im zweiten Stock des Hauses.«

Während Strazzante beobachtete, fotografierte und bis zu einem gewissen Grad zu einem Familienmitglied wurde, veränderte sich die Welt rund um die Farm. Chicago breitete sich aus, streckte die urbanen Arme nach der Farm aus. Die 60 Kilometer zwischen den zwei so unterschiedlichen Welten schmolzen Jahr um Jahr.

1999 verschlechterte sich Harlows Gesundheitszustand. Er konnte immer schlechter die harte Arbeit auf dem Hof verrichten, und die Cagwins fingen an, darüber nachzudenken, ihre Farm zu verkaufen. Plötzlich wurde aus Strazzantes privater Leidenschaft, die Cagwins und ihr Leben fotografisch zu dokumentieren, eine Arbeit von öffentlichem Interesse, erzählt sie doch nicht nur vom Farmleben, sondern auch und vor allem von der schleichenden Veränderung von Lebensumständen und -entwürfen.

Die Cagwins verkauften schließlich ihre 40 Hektar große Farm an Ryland Homes. Ryland kauft Farmland im großen Stil auf und teilt es in Parzellen ein. Am Reißbrett entstehen so neue Gemeinden mit kleinen Grundstücken, die auch für finanziell nicht so gut situierte Familien erschwinglich sind und ihnen den Traum vom eigenen Haus erfüllen. Auf diese Weise entstand Willow Park, eine Gemeinde mit 300 neuen Häusern. Aus den Weiden und Kornfeldern der Cagwins wurden in kürzester Zeit Straßen, Grundstücke, Garagenauffahrten und Gärten.

Solche Retortenorte sind ein äußerst erfolgreiches Geschäftsmodell, und Ryland Homes gehört zu den größten Landentwicklern und Bauunternehmern in den USA.

Am 2. Juli 2002 war es soweit. Transporter holten die Kühe ab. Während für Harlow und Jean Cagwin eine Welt, ihre Welt zerbrach, riss ein Bagger ihr Haus ein. Bis heute fällt es vor allem Harlow schwer, darüber zu sprechen. Er ist sich auch nach wie vor nicht sicher, ob es richtig war, die Farm zu verkaufen. Aber letztlich hatten er und seine Frau keine Wahl. »Die Zeit war gekommen«, sagt Jean, »wir stiegen ins Auto und schauten nicht zurück«. Mit dem Abriss des Cagwinschen Hauses endete der erste Teil von Strazzantes Geschichte. Denn obwohl Strazzante lange Zeit nicht wusste, warum er die Cagwins überhaupt fotografierte, wollte er nun auch das Leben in der neuen Siedlung dokumentieren, den amerikanischen Traum 2.0, sozusagen.

Fünf Jahre lang, zwischen 2002 und 2007, suchte er in Willow Park eine Familie, die sich fotografieren lassen würde. Doch vergebens – keine Familie war dazu bereit. Wo alle Planung keinen Erfolg hat, spielt manchmal der Zufall die entscheidende Rolle. Bei einem Fotografie-Workshop in einem der Vororte von Chicago präsentierte Strazzante seine Geschichte. Amanda Grabenhofer meldete sich, erzählte, dass sie in Willow Park lebe. Die Fügung wollte es, dass Amanda und ihr Mann Ed mit Sohn Ben und den Drillinge Aiden, Abigail und Caitlyn das Grundstück gekauft hatten, auf dem einst das Cagwin-Haus gestanden hatte.

Anderthalb Jahre lang besuchte Strazzante die Grabenhofers, fotografierte auch bei ihnen alle Bereiche des Lebens, hatte aber noch keine wirklich überzeugende Idee, wie er die beiden Geschichten kombinieren sollte. »Ich dachte über ein Buch nach, das im ersten Kapitel die Cagwins und im zweiten Kapitel die Grabenhofers zeigen sollte.« Aber das fühlte sich nicht richtig an.

Als Strazzante eines Nachmittags Ben und seinen Cousin CJ im Garten fotografierte, als die beiden miteinander im Gras rangen und Ben CJ mit einem Seil fesselte, erinnerte er sich an ein Foto, auf dem Harlow auf einem der Felder ein zwei Tage altes Kalb niederband. Da wusste Strazzante, dass er Dypticha – Doppelbilder, wie man sie aus Altarräumen kennt – aus den Fotos zusammenstellen wollte.

Er durchsuchte sein bisheriges Konvolut von 50000 analogen Negativen, die in den acht Jahren mit den Cagwins entstanden waren, und fand überraschenderweise viele Fotos, die ähnliche Szenen zeigten.

Mit dem Wechsel zu digitalem Equipment hatte sich auch Strazzantes Fotografierverhalten verändert. »Ich fotografiere deutlich mehr. In den achtzehn Monaten bei den Grabenhofers sind ebenfalls rund 50000 Fotos zusammengekommen.«

Aus einer kleinen Zeitungsreportage war ein Langzeitprojekt von riesigen Ausmaßen geworden. In 14 Jahren waren 100000 Fotos entstanden. Strazzantes fertige Geschichte »Common Ground«, was soviel wie »Gemeinsamer Boden« bedeutet, bestand aus aus 124 Bildern beziehunsgweise 62 Doppelbildern (Dypticha). »Nette Quote, oder?«

Während sich das Farmland der Cagwins in Grundstücke für Familien verwandelte, änderte sich auch die Medienlandschaft. Mit dem Internet entstanden neue Publikationsplattformen. Eine dieser Plattformen ist die von MediasStorm in New York, die sich auf multimediale Reportagen spezialisiert hat.

Aus einer gedruckten Fotoreportage wurde durch zusätzliche Interview- und Filmsequenzen eine vielschichtige Dokumentation, die vom Leben der Familien Cagwin und Grabenhofer erzählt.

Am Ende der Foto/Film-Dokumentation sieht man eine Sequenz, wie Harlow und Jean Cagwin das erste Mal zu Amanda und Ed Grabenhofer fahren. Es braucht eine Weile, bis die Cagwins sich zwischen den parzellierten Grundstücken orientieren können.

Dann finden sie die Straße, die es damals noch nicht gab, als sie dort lebten, und in der nun die Grabenhofers ihr Heim haben: den Cagwin Drive.

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Dirk Kirchberg
arbeitet als freier Autor und Online-Redakteur von Hannover aus.