Magazin #20

Unsichtbares sichtbar machen

Der Wettlauf um die aktuellsten Fotos interessiert sie nicht. Ihre Bilder loten Grenzlinien der Gesellschaft aus, und ihre Geschichten von Außenseitern werden zum Spiegel für die Betrachter. Jodi Bieber – Porträt einer Fotografin aus Südafrika.

Text – Kay Dohnke

Sie heißen Bradley, David und Ivan. Ihre Namen wird man sich kaum merken, wenn man sie überhaupt erfährt – aber ihr Gesichter prägen sich ein, und ihre Rolle ist unverzichtbar: Bradley, David und Ivan sind Scouts, sind Vermittler; sie ermöglichen Einblicke in Welten, die ansonsten verborgen oder doch verschlossen bleiben würden. Ihre Lebenswelten.

Der schwarze südafrikanische Junge Bradley, der weiße Kleinkriminelle David aus dem Johannesburger Stadtteil Brixton, der drogenabhängige Ivan aus Valencia sind Hauptpersonen in Reportagen von Jodi Bieber. Die drei zeigen der Fotografin ihren Alltag, und sie zeigt ihn den Betrachtern der Bilder. Ohne Scouts hätte die Fotografin keinen Zugang zu Bereichen der menschlichen Existenz gefunden, von denen vorher kaum jemand wirklich eine Vorstellung hatte. Und Jodi Bieber selbst anfangs wohl auch nicht.

Die 38-jährige Südafrikanerin hat sich weltweit in die Spitzengruppe der Branche vorgearbeitet. Sieben World Press Photo Awards in vier Jahren – also gleich dreimal eine doppelte Auszeichnung – und zahlreiche weitere Preise belegen das eindrücklich. Doch wenn sie als Person dabei im Hintergrund geblieben ist, liegt das an ihrer ungewöhnlichen Arbeitsweise. Jodi Bieber gehört nicht zu den Fotografen, die ihren Einsatz vom Nachrichtenticker bestimmen lassen und deren Bilder dann in Tageszeitungen und Magazinen erscheinen. Zwar war Bieber in Johannesburg lange als Fotoreporterin aktiv, konzentriert sich inzwischen aber vor allem auf langfristige Projekte.

GRENZEN ÜBERSCHREITEN

Ursprünglich arbeitete Jodi Bieber in ihrer Geburtsstadt Johannesburg als Marketing- und Medienplanerin einer Werbeagentur. Doch als sich die politischen Verhältnisse ihres Heimatlandes stark zu verändern begannen, nahm auch ihre berufliche Karriere eine unerwartete Wendung. 1990 belegte Bieber einen sechswöchigen Abendkursus in Schwarzweiß-Fotografie im Market Theatre Photo Workshop, geleitet von David Goldblatt, dem Doyen der Fotografie in Südafrika.

Und damit begann – ohne dass sie davon eine Idee haben würde – eine Entdeckungsreise, die bis heute nichts von ihrer Dynamik oder Dramatik verloren hat. Fortan hatte Jodi Bieber ihre Kamera fast immer dabei, vor allem bei politischen Veranstaltungen und Demonstrationen. »Wir hatten auf dem Job immer das Radio laufen und wussten so, wo etwas passieren würde«, erinnert sie sich an diese Zeit, in der die Machtverhältnisse in Südafrika in Turbulenzen gerieten.

Je stärker das Alltagsleben ihres Landes politisiert wurde, desto klarer wurde für Jodi Bieber, in einer Zeit des Umbruchs zu leben. Rückblickend bringt sie ihre Herkunft und ihren damaligen sozio-kulturellen Hintergrund mit dem Stichwort »Mittelklasse« auf einen Nenner. Mittelklasse – das sind jene Menschen, die im vordemokratischen Südafrika in relativer Sicherheit und Wohlstand lebten und auch nach der Rückkehr des Landes in die Weltgemeinschaft keine großen Statusverluste zu befürchten hatten. Von der Wirklichkeit in ihrem eigenen Land wussten sie anfangs nur wenig.

Doch für Jodi Bieber veränderte sich die Situation – sie entdeckte in dieser Phase der politischen Neubestimmung schnell die Vielschichtigkeit der Gesellschaft, deren politische, soziale, kulturelle und vor allem humanitäre Tranformation ein faszinierender, dynamischer, langfristiger Prozess sein würde. Und daran wollte sie teilhaben, als Beobachterin, als Zeugin. »Meine Kamera wurde das Vehikel, um Dinge zu erforschen, die ich nie zuvor gesehen hatte – die Gesellschaft, die mich umgab.«

Im Sommer 1993 absolvierte Jodi Bieber ein dreimonatiges Praktikum beim Johannesburg Star – und fand ihre Profession. Schon am vierten Tag bei der Zeitung wurde sie mit Tod und Gewalt konfrontiert, mit der Realität ihres Landes, die sie so im Büro der Werbeagentur nie mitbekommen würde oder von der sie nur passiv im Radio hören konnte. Im September startete sie ihre Profilaufbahn als Fotografin – und just zu diesem Zeitpunkt wurde ihr in der Agentur ein besserer Job mit weit höherer Bezahlung angeboten. Zu spät.

Die nächsten drei Jahre arbeitete Bieber als freie Fotografin zumeist für den Star und dokumentierte unter anderem Ende April 1994 die ersten demokratischen Wahlen in Südafrika. »Ich fühlte mich, als sei ich Teil der Geschichte«, erinnert sie sich – und fügt lächelnd hinzu, dass sie in den bewegendsten Momenten zuweilen das Fotografieren vergaß.

»GROWING UP WITH SOUTH AFRICA«

»Aufwachsen mit Südafrika«: So lautet der Titel einer freien Reportagearbeit Jodi Biebers, und es könnte auch das Motto für ihre ersten Jahre als Fotografin sein. Sie verlässt die etablierten Stadtteile von Johannesburg, erkundet jene Randbereiche intensiver, die ihr schon aus der täglichen Arbeit für den Star oberflächlich bekannt sind.

Sie nimmt sich jetzt mehr Zeit, fotografiert Bildserien. So entstehen größere Geschichten – darunter jene über den kleinen Bradley und sein Umfeld, die deutlich macht, wie sich hier Gesellschaft organisiert und eigene Regeln entstehen. Im Johannesburger Vorort Westbury begleitet Bieber 1996 die Jugendgang »Fast Guns« – ein riskantes Vorhaben, da die sich mit den »Varados« aggressiv bekämpft und es jederzeit zu Gewaltanwendung kommen kann. »Niemand wollte glauben«, erzählt sie, »dass ein weißes Mädchen ohne irgendwelchen Schutz da reingegangen ist«. Im Stadtteil Brixton porträtiert sie David, der mit seiner Familie in einer Grauzone zwischen Legalität und Kriminalität lebt.

Trotz der dokumentierten Probleme – die vielleicht erst aus der Sicht mittelständischer Betrachter als Problem erscheinen, für die Porträtierten aber normale Lebensbedingungen sind – zeigen Jodi Biebers überwiegend schwarzweiß fotografierte Sozialreportagen immer auch Lebensfreude und Optimismus. 1997 beobachtet sie für die britische Zeitung The Independent das »Ballroom Dancing« in den Townships, und in einer freien Arbeit erzählt sie vom 24-jährigen Johnny Seotlolla, der unter improvisierten Bedingungen in der Gauteng Music School Trompete lernt.

SPIEGEL DER REALITÄT

Biebers Arbeit ist von der großen Offenheit ihres Wesens geprägt – unabdingbar, um an die Subjekte ihrer Geschichten heranzukommen. »Ich möchte, dass die Leute wissen, was ich tue«, erklärt sie, »ich möchte die Menschen nicht falsch darstellen, mir durch sie keinen Vorteil verschaffen, indem ich sie benutze«. Nur durch engen Kontakt erschließt sich für die Dokumentarin die Tragweite der Lebensverhältnisse. Sie wird unweigerlich hineingezogen, nimmt emotional immer stärker Anteil, was auch die entstehenden Fotos prägt. Spätestens beim Abschluss eines Projekts machen sich diese Gefühle bemerkbar: »Ich kann wieder rausgehen, aber die Menschen stecken dort fest. Ich habe nicht die Macht, ihr Leben zu ändern.« Doch zumindest eins unterliegt keinem Zweifel mehr: Mittelstand – Bürgerlichkeit – wird für Jodi Bieber nie wieder ein Maßstab sein in ihrem unstillbaren Interesse, diese Welt zu erfahren und das weiterzugeben, was sie entdeckt.

1998 beauftragt das Arts Council of South Africa sie mit einer Dokumentation der »People of Eksteenfontein«, die die Existenzbedingungen in diesem ärmlichen Dorf in der Halbwüste der Kapprovinz festhalten soll. Und für Pro Helvetia erarbeitet Bieber die Reportage »Operation Crackdown« über das Lager Lindela in Kruegersdorp bei Johannesburg, wo illegale Einwanderer aus Simbabwe und Mozambique interniert und dann per Zug wieder in ihre Heimatländer abgeschoben werden.

Jugendgangs und »Ballroom Dancing«, Musikschüler und illegale Migration: So unterschiedlich ihre Geschichten auch sein mögen – die Region Gauteng, das »goldenen Dreieck« um Johannesburg, wird für Jodi Bieber zum Spiegel der globalen Realität. Den hier zu beobachtenden Verhältnissen wird sie auch in anderen Ländern und Kontinenten immer wieder begegnen.

MENSCHEN STATT SCHLAGZEILEN

1996 erhält Jodi Bieber die Einladung zur Teilnahme an der World Press Masterclass – für sie eine willkommene »Gelegenheit, die internationale Welt der Fotografie zu erleben«. Südafrika war lange Jahre wegen der repressiv-rassistischen Regierungspolitik geächtet, was die Isolation von Kunst, Kultur und Journalismus zur Folge hatte. Erst langsam bekam das Land intensiveren Kontakt zur großen Welt der Fotografie – Beziehungen entstanden, die sich kreativ Schaffende weit eher gewünscht hätten.

Der intensive Austausch mit anderen Fotografen öffnet Biebers Perspektiven noch auf eine andere Weise: Parallel zur Intensivierung ihrer Arbeit zuhaus fährt sie jetzt auch in andere Länder. Im Gepäck hat sie zwei Nikon F3, ein 35-mm-Objektiv, sonst kaum etwas. »Ich hasse es, mit viel Ausrüstung zu reisen«, kommentiert sie, »und bevorzuge es, nur wenig bei mir zu haben«.

Für das Magazin Attitude Rugby fährt sie 1998 nach Madagaskar und fotografiert die Life Rugby School, wo 43 Trainer unterprivilegierte Kinder und Jugend­liche durch den Sport sozial stabilisieren und integrieren – und ihnen die oft einzige Mahlzeit des Tages geben. Als im November 2000 eine Ebola-Epidemie ausbricht, macht sich Bieber auf den Weg nach Uganda; ihre Bilder erscheinen im Magazin der New York Times. Die britische Organisation »Learning for Life«, die auf dem indischen Subkontinent Schulen fördert, beauftragt sie 2001 mit einer Dokumentation der Situation in Pakistan, wo sie dann sechs Wochen lang arbeitet. »Positive Lives« – eine Anti-Aids-Organisation – nimmt Jodi Bieber im Herbst 2003 unter Vertrag, um auf der Mülldeponie Las Cañas bei Valencia die etwa 100 ständig dort lebenden drogenabhängigen HIV-Kranken zu fotografieren. Von Unicef wird sie im November 2003 in die Provinz Kivu im Ostkongo geschickt, wo Jodi Bieber in der Stadt Baraka Frauen porträtiert, die im Bürgerkrieg Opfer sexueller Gewalt wurden und jetzt bei den Ärzten ohne Grenzen Betreuung finden.

Diese Projekte zeigen verschiedene Stile und Herangehensweisen, die Biebers Arbeitstechnik charakterisieren. Der schwarzweiß fotografierten Sozialdokumentation aus Madagaskar steht die Farbreportage aus Uganda gegenüber, in der sich faktische Nachrichtenfotografie und ein einfühlsamer Blick auf die Betroffenen verbinden. Während Bieber in Pakistan dokumentiert, wie benachteiligte Kinder die spärlichen Bildungsmöglichkeiten nutzen, werden die Porträts aus Las Cañas fast im ethnografischen Stil des 19. Jahrhunderts aufgenommen. Und im Kongo gelingt Jodi Bieber der Kunstgriff, Unsichtbares sichtbar zu machen und dabei das Sichtbare zu verbergen – in den »Portraits without Faces« erkennt man keine der traumatisierten Frauen direkt, ahnt aber angesichts der Gesichter hinter Schleiern oder Schatten ihre elementare emotionale Zerrüttung.

Vermutlich werden diese Projekte vor allem deshalb bekannt, weil sie eine Auszeichnung erhalten, denn ursprünglich sind sie nicht für die mediale Verbreitung fotografiert. Jodi Bieber arbeitet auf eine ungewöhnliche Art – sie versteht sich nicht mehr als Fotojournalistin, die Tagesereignisse dokumentiert, sondern konzentriert sich stärker auf Langzeitprojekte, die sie oft in Kooperation mit einer Non-Profit- oder Non-Gouvernment-Organisation realisiert. Daher trittt sie in ihrem Berufsalltag nur selten an Magazine heran, obwohl sie in ihren Projekten sehr wohl auch aktuelles Geschehen fotografiert. Doch geschieht das überwiegend jenseits der Schlagzeilen.

FASZINATION AFRIKA

Der weitgehende Verzicht auf Medienjobs zwingt Jodi Bieber zu drastischen wirtschaftlichen Einschränkungen – »ich lebe ein sehr einfaches Leben«, kommentiert sie augenzwinkernd. Die Arbeit für Organisationen und die Umsetzung ihrer Bilder in Dokumentationen und vor allem Ausstellungen ist ihr den materiellen Verzicht wert: »Ich bevorzuge die Art, wie meine Arbeit in Ausstellungen verwendet wird – genau so präsentiert, wie ich die Bilder gemacht habe. Und ich bevorzuge es, wenn meine Bilder so gesehen werden, wie ich sie fotografiert habe.«

Um andere Verhältnisse kennen zu lernen, »eine andere Perspektive auf diese Welt zu gewinnen« und so aus der Distanz den Blick auf Vertrautes zu schärfen, verlegte Jodi Bieber ihren Wohnsitz vorübergehend nach Paris. Doch obwohl einige Magazinjobs sie wieder in ferne Weltgegenden führen – für Mare fotografiert sie u.a. im Iran an der Küste des Kaspischen Meers oder auf der Südseeinsel Palau –, bleibt die enge Verbindung zu ihrer Herkunftsregion bestehen. Anfang 2004 kann sie dem Magazin L‘Express eine Reportage über zehn Jahre Demokratie in Südafrika und die Entwicklung der schwarzen Mittelklasse verkaufen. Sie fährt heim und porträtiert junge Leute in Soweto – einige von ihnen haben inzwischen den Aufstieg geschafft und wohnen in Vierteln, die früher für die schwarze Community verboten waren. Soweto bleibt jedoch ihre Bezugsgröße, und oft kehren sie in das ehemalige Ghetto zurück.

Diese Geschichte ist signifikant für Jodi Biebers Arbeitsweise – die Fotografin will zeigen, »dass es in Südafrika mehr als nur Apartheid, Aids, Gewalt oder Großwild in Nationalparks gibt«. Und sie unterstreicht einmal mehr die enge emotionale Verbindung zu dem Land, in dem sie nachhaltig zu sehen gelernt hat, als Fotografin wie als Mensch: »Meine größte Leidenschaft ist es, in Südafrika zu arbeiten – im südlichen Afrika schlechthin.«

Jodi Bieber
geboren 1966 in Südafrika. 1990 Abendkurse in Fotografie, ab September 1993 als Freelancer für den Johannesburg Star Profifotografin. Seit 1996 Realisierung weltweiter Projekte, vor allem aber im südlichen Afrika. Zahlreiche Auszeichnungen. Lebt derzeit in Paris. Jodi Bieber wird von Neill Burgess Pictures (London) bzw. Rapho (Paris) und der Agentur Focus (Hamburg) vertreten.
Fotos und Reportagen erschienen u.a. in folgenden Publikationen:
Pro Helvetia (Hg.), Über die Grenze. Fotoreportagen und Essays. Zürich 2001.
Soweto. Ein südafrikanischer Mythos. Stuttgart 2001.
Reporter ohne Grenzen (Hg.), ÜberLeben im Alltag. 10 Fotografinnen für die Pressefreiheit. Berlin 2002.
I have no joy, no peace of mind. Ärzte ohne Grenzen 2004.
World Press Photo Awards:
1998   1. Preis Kunst/Einzelfotos: Ballroom Dancing in den Townships
2. Preis Kunst/Fotoserien: Gauteng-Musikschule in einem Township bei Johannesburg
1999   1. Preis Porträts/Fotoserien: People of Eksteenfontein
2. Preis Sport/Fotoserien: Life Rugby School auf Madagaskar
2001   1. Preis Alltagsleben/Fotoserien: Operation Crackdown. Illegale Einwanderer in Südafrika
3. Preis Menschen in den Schlagzeilen/Fotoserien: Ebola-Krise in Uganda
2002   1. Preis Portäts/Einzelfotos: Mädchen in Pakistan