Magazin #12

Visuelles Geschichtenerzählen

Fotografen in den USA, und zunehmend auch hier zu Lande beschäftigen sich mit filmischen Erzählformen und Videotechnik. Erfordert die Digitalisierung der Medienwelt einen neuen Bildjournalismus?

Text – Tracy Baker

Zeit für das Morgengebet. Der Dalai Lama geht eiligen Schrittes zum Tempel. Nebenbei fragt er den Reporter: »Was haben Sie gestern gemacht?« »Im Dorf fotografiert«, antwortet David Turnley. Ein Zwiegespräch entwickelt sich – fast wie unter alten Bekannten. Währenddessen geht der mehrfache Foto-Preisträger mit der Kamera voraus – einer Videokamera – und filmt den buddhistischen Würdenträger.

Diese dynamische Kamerafahrt stammt aus dem Videofilm »At Home In Exile«, in dem Turnley den Dalai Lama bei seinem Alltagsleben begleitet: Im Badezimmer, beim stillen Gebet, beim Studieren des Modemagazins Vogue, bei der Aussprache mit Gläubigen und beim Zelebrieren einer Andacht. Dabei entstand – auch durch die Verwendung von Still-Fotos – ein besonders intensives Porträt eines besonderen Menschen. Grund genug für eine Nominierung dieser CNN-Dokumentation für einen Emmy Award, das amerikanische Fernseh-Äquivalent zum Oscar.

1998 gab David seine langjährige Anstellung bei der Detroit Free Press auf und zog nach New York. Zugleich begann er, neben der Fotografie auch mit Videotechnik zu arbeiten. Seither hat er fünf Dokumentationen sowohl mit Fotos als auch Videomaterial produziert, die im US-Fernsehmagazin Nightline liefen, darunter ein Beitrag über Flüchtlinge im Kosovo. Seit kurzem ist David Turnley Geschäftsführer und internationaler Producer von Corbis Documentaries, einer neuen Agentur innerhalb der Firma Corbis, die »ein kleines Team aus den talentiertesten Fotojournalisten und Filmemachern der Welt« zusammenbringen will, damit sie »Dokumentar-Geschichten mit starker visueller und sozialer Sensibilität« erzählen.

David Turnley und auch sein Bruder Peter sind bislang die bekanntesten Vertreter eines neuen Typs von Bildjournalisten, die mit Fotografie und Video arbeiten. Einer der Protagonisten dieser Arbeitsweise, der US-Amerikaner Dirck Halstead, nennt dieses neue Berufsbild »Platypus«, Schnabeltier. Namensgebend war dabei das wundersame Säugetier, das mit Schnabel und Schwimmfüßen Merkmale verschiedener Tiergattungen wie Vogel oder Fisch aufweist. Und so – halb Still-Fotograf, halb Filmregisseuer – sieht Halstead auch die Rolle des Foto-Videografen. David Turnley jedoch bevorzugt anstelle des Namens »Platypus« den weniger skurrilen Begriff »visueller Journalist«. »Fotografen haben zu hart gearbeitet, um als Journalisten respektiert zu werden«, meint er, als dass sie ihr einmal erreichtes Ansehen durch eine alberne Berufsbezeichnung gefährden sollten.

ANTWORT AUF MEDIENVERSCHMELZUNG

Die Digitalisierung sowie die Technik der immer schnelleren Breitband-Datenübermittlung hat die Art und Weise verändert, wie Informationen gesammelt, bearbeitet, präsentiert und kommuniziert werden – die Informations­übermittlung durch Fernsehen und Publizistik ist im Wandel. Dazu gehört auch die Information, die traditionell das tägliche Brot von Journalisten und Fotografen ist.

Viele Fotografen fürchten, dass sie die letzten Tage des Fotojournalismus erleben – eine Angst, die Entscheidungen wie die des Time-Warners-Konzerns zur Einstellung des Life Magazine nicht gerade beschwichtigen hilft. Andere Kollegen jedoch erwarten, dass die digitale Breitband-Welt von Kabel-, Satellit- und Internet-Medien sehr bald begierig sein wird auf genau jene Art persönlicher Vision des individuellen Geschichtenerzählens und Berichtens – ähnlich, wie sie als Fotografen bereits immer gearbeitet haben, jetzt nur mit bewegten Bildern.

Einige der potentiell Betroffenen sind geradezu euphorisch. Weltbekannte Fotojournalisten wie Dirck Halstead sagen schon jetzt ein »goldenes Zeitalter für visuelles Geschichtenerzählen« voraus. Vor allem die Verschmelzung der Medienformen deute darauf hin: Weltweit ist die Zahl der Zeitungen, die ihre eigenen Internet-Seiten präsentieren und sie oft mit vielen Fotos und Video-Clips illustrieren, in den Himmel geschossen. Und manche – wie etwa Aftenposten aus Oslo – haben mit der Produktion kompletter Video-Beiträge ausschließlich für ihre Website begonnen und ziehen dafür jeweils einen Monat lang einen fest angestellten Fotografen mit entsprechender Video-Ausbildung aus der täglichen Produktion ab, um diese Filme zu erstellen.

Gewiss wird weiterhin Bedarf an guter Fotografie bestehen – eine grundlegende Erweiterung durch Video scheint Insidern jedoch schon jetzt unvermeidlich. »Weil Zeitungen nach Wegen suchen, ihre Websites interessant zu gestalten«, sagt Vin Alabiso, Executive Director of Photography bei der Associated Press, »werden sie Videos von ihren Fotografen fordern«. Und wenn die Medientechnik – allem voran die schnelle Online-Übertragbarkeit großer Datenmengen – sich weiterhin so rasant entwickelt, werden Nachrichtendienste wie Alabisos AP einen stetigen Nachschub an gutem Videomaterial brauchen, auf das immer mehr Kunden abonniert sind.

NEUE ARBEITSTECHNIKEN

Es wird also weiterhin um Bilder gehen – nur um andere Aufnahme- und damit Arbeitstechniken. »Wenn man mich vor drei Jahren über die Zukunftsaussichten unserer Profession befragt hätte, wäre meine Antwort ziemlich bedrückend ausgefallen«, schrieb der Fotojournalist Dirck Halstead kürzlich, doch »heute denke ich, dass wir an der Schwelle zu Entwicklungen stehen, die uns erlauben werden, das Medium in neue und wundervolle Dimensionen zu führen. Wir fangen gerade erst an, die Implikationen [der Medienverschmelzung] für visuelle Berichterstatter zu verstehen.«

Halstead – erst als Fotograf für UPI in Vietnam, dann seit vielen Jahren für Time im Weißen Haus tätig und vielfach preisgekrönt – ist lange genug und noch dazu an sehr exponierter Stelle im Geschäft, so dass er wissen sollte, wovon er redet. »Wenn ich davon spreche, dass der Fotojournalismus tot ist, spreche ich nur von dem Konzept, ein einziges Bild für die Publikation in Massenmedien auf einem Zelluloid-Film einzufangen«, sagt er. Schon seit mehreren Jahren ist er zum leitenden Fürsprecher des Übergangs vom traditionellen Fotojournalismus zum Multimedia-Visualjournalismus geworden, der ihn schließlich zum Platypus-Konzept vom digitalisierten und computerisierten Videojournalisten nach Art eines Hans-Dampf-in-allen-Gassen geführt hat. Und das vermittelt er in seinen Workshops.

Digitaler Journalismus ist laut Halstead als Metier für die heutigen Fotojournalisten fast maßgeschneidert. »Er greift auf die klassische Disziplin des Fotoessays zurück und schafft sie für die Verwendung in einer Breitband-Welt neu«, sagt er. »Das einzig Neue ist die Fähigkeit, Ton und Bewegung zu verwenden.« Halstead spricht geradezu überschwenglich von dem, was er in der Zukunft sieht und »visuelles Geschichtenerzählen« nennt.

ZUKUNFTSCHANCE FÜR FOTOGRAFEN

Und dabei hätten vor allem die heutigen Fotografen die Nase vorn, denn es geht um mehr als das Beherrschen einer zusätzlichen Aufnahmetechnik: Sie sind daran gewöhnt, allein zu arbeiten, Ideen für Geschichten zu entwickeln, vor Ort zu recherchieren, Kontakte herzustellen – anders als Video-Kameraleute, die draußen bislang meistens mit einem Producer, einem Reporter und einem Tonmann im Team tätig sind. Die Möglichkeit, allein und unauffällig zu arbeiten und dadurch eine Situation oder ein Ereignis nicht zu stören, wie es bei einem Team unvermeidbar ist, lässt Fotografen dichter an Menschen und damit Themen herankommen.

Inzwischen ist Halstead international als eine der treibenden Kräfte im zeitgenössischen Videojournalismus anerkannt; sein monatlich publiziertes E-Zine The Digital Journalist bietet zusammen mit seinem Archiv mehr als 1.700 Seiten anregender Lektüre, darunter Essays, Editorials und Multi-Media-Geschichten von Platypus-Fotojournalisten wie David Alan Harvey, FreeLenser Gerd Ludwig, Martin Lueders und Paul Lowe von Magnum.

Das Platypus-Konzept der Verbindung von Fotografie und Videografie stößt auf immer größeres Interesse, das zeigen die Teilnehmerzahlen an Halsteads Platypus-Workshops. Bei diesen Schulungen geht es nicht nur um Technik, sondern auch um filmische Erzählmethoden – etwas völlig Neues für die meisten Fotografen. Neben den Turnley-Brüdern David und Peter, die beide 1999 an einem Platypus-Workshop teilnahmen, scheint auch Hans-Jürgen Burkard zum Platypus-Videojournalisten konvertiert. Der unter anderem für den Stern arbeitende Fotograf wurde von David Turnley überzeugt, sich für einen Workshop anzumelden. Burkard musste schließlich aus den tschetschenischen Kriegsgebiet ausfliegen, um rechtzeitig anzukommen – »andernfalls hätte ich bis nächstes Jahr warten müssen«, sagte er, »und das ist zu spät«.

GOLDENE ZEITEN FÜR DEN PLATYPUS?

Das gegenwärtige mediale Klima in Deutschland deutet auf den Erfolg des Platypus-Konzeptes hin, denn überall schießen regionale Fernsehsender wie TV Berlin, NRW TV und N 24 aus dem Boden. Zudem ist es hier zu Lande üblich, Material von Freelancern und unabhängigen Produktionsfirmen einzukaufen – nimmt man die zunehmende Verwendung von Videos auf Websites hinzu, dürfte der Markt also wachsen.

Mehr als das, sagt Halstead: Professionelle Fähigkeiten in beiden Bereichen werden schon bald die Ausgangsvoraussetzung sein, um überhaupt noch für viele Zeitungen, Magazine und sogar Nachrichtendienste zu arbeiten. Ein kurzer Blick auf APs öffentlich zugänglichen World-Wide-Web-Report The Wire bestätigt, dass die Agentur zu vielen Geschichten neben Fotos auch QuickTime- und Real-Time-Audio- bzw. Videoclips liefert.

Und noch ein ganz anderer Aspekt weist in Richtung Platypus. Momentan muss ein Visual-Journalist neuen Typs zwar noch mit doppeltem Equipment unterwegs sein, um sowohl Videos als auch brauchbare Stills liefern zu können, doch unter der Hand soll der Vertreter eines großen japanischen Herstellers von Profikameras Halstead gegenüber angedeutet haben: Seine Firma habe nur noch einen neuen Fotokamera-Body in Planung. Diese Kamera, meinte er weiter, sei vermutlich die letzte professionelle Fotokamera, die seine Firma noch produzieren werde. Danach sei die technische Qualität von Stills, die mit der Videokamera erzeugt werden, gut genug, um auch sehr hohen Standards zu genügen.

Häufig jedoch liegt das Augenmerk zu sehr auf technischen Aspekten der Videografie – kein Wunder, dass auch das Platypus-Konzept seine Kritiker hat. Larry Nighswander, Direktor der School of Visual Communication an der Ohio University, einer der führenden Akademien für Fotojournalismus der USA, und selbst früherer Bildredakteur bei National Geographic, teilt diese Besorgnis. Das Bemühen, mit der rapiden technischen Entwicklung Schritt zu halten, führe seiner Meinung nach oft zu einer Vernachlässigung der Inhalte. »Wir konzentrieren uns zu sehr auf die technischen Skills und zu wenig auf intellektuelle Fähigkeiten«, sagt er. »Und wenn jemand versucht, Bilder zu machen, Ton aufzunehmen und dabei noch ein Video zu filmen, wird darunter vermutlich etwas leiden.« David Turnley stimmt ihm zu, dass hier eine Gefahr liegen könne – obwohl dessen jüngste Arbeiten zeigen, dass es nicht unbedingt so sein muss. Auch müssen nicht zwangsläufig Stills und Video in eine einzige Produktion integriert werden.

PLATYPUS – KEIN UNIVERSALREZEPT

»Ich denke mir die Verschmelzung der Medien nicht aus«, entgegnete Platypus-Schöpfer Halstead auf einige Vorhaltungen. »Dieser Prozess ist unvermeidlich, mit oder ohne den Platypus. Entweder besteigst du den Zug, und das möglichst als Fahrer, oder du bleibst zurück. Du kannst entweder versuchen, die Führung zu übernehmen, oder warten und sehen, was passiert. Der Platypus empfiehlt Ersteres.«

Halstead konstatiert zugleich, dass das Platypus-Konzept kein Universalrezept sei. »Nicht jeder kann ein Platypus sein«, sagt er den Teilnehmern während der Workshops. Arbeitsmöglichkeiten für künftige Fotojournalisten – in Festanstellung und als Freelancer – werden nicht völlig verschwinden. David Turnley dazu: »Auch in Zukunft wird es immer Raum für traditionelle Fotografie geben.« Ein Gedanke Halsteads ist aber nicht von der Hand zu weisen: »In der Spitzengruppe des Fotojournalismus erleben wir die ständige Reduzierung von Einsatzchancen für Fotografen, doch knapp hinter dem Horizont gibt es eine neue Art des Geschichtenerzählens und einen neuen Markt, der nach diesen Geschichten hungert«, schrieb er kürzlich – und fügte lakonisch hinzu: »Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse.«

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Tracy Baker
arbeitete für viele internationale Nachrichtendienste und Agenturen. Tätigkeit in zahlreichen europäischen Ländern. Seit 1998 Redakteur des German Newspaper News Service, dem englischsprachigen Dienst der Deutschen Presseagentur in Hamburg.