Magazin #34

Wenn Bücher Türen öffnen

Für Gerry Johansson bildet das Buch die ideale Präsentationsform seiner fotografischen Arbeit. Seit vielen Jahren verlegt der schwedische Fotograf eigene Bücher und verweigert sich dem gängigen Mainstream im Markt. Mit der gleichen Beharrlichkeit vertreibt er seine Bücher selbst. Mit Erfolg – seine Fangemeinde wächst.

Text – Peter Lindhorst
Fotos – Gerry Johansson

Oft betonen Fotografen, dass für sie das Buch das perfekte Medium darstelle, um zwischen den Deckeln eine abgeschlossene Geschichte zu entwickeln. Gerry Johansson hat etwas anderes vor. »Ich hänge an der Idee, dass jedes Bild im Buch eine neue Geschichte ist. Es gibt nicht den einen großen Handlungsbogen, dem der Betrachter folgen soll.« Der schwedische Fotograf strebt keine offene oder versteckte Dramaturgie im Buch an. Er misstraut der überambitionierten Konstruktion. Schlägt man ein Johansson-Buch auf, gönnt dieses seinen Arbeiten luxuriösen Platz, wenn ein kleines Einzelfoto auf einer aufgeschlagenen Doppelseite präsentiert wird.

Auch mit anspruchsvollen Büchern lässt sich ein Publikum erreichen. Als Self-Publisher ist man sein eigener Designer, Lektor und Marketingstratege. Foto: Gerry Johansson
Auch mit anspruchsvollen Büchern lässt sich ein Publikum erreichen. Als Self-Publisher ist man sein eigener Designer, Lektor und Marketingstratege. Foto: Gerry Johansson

Die Bücher des Schweden trotzen dem Betrachter eine konzentrierte Beschäftigung ab. Seine Fotos bilden Vorstadtarchitekturen, Industrieanlagen, Geschäftsauslagen und immer wieder Landschaften ab, die von zerstörerischen Eingriffen und Ressourcenausbeutung gekennzeichnet sind. Im Gegensatz zu den »New Topographics«-Fotografen, die einem als Referenz in den Sinn kommen, glaubt Johansson nicht daran, komplette Bestandsaufnahmen einer dem ökonomischen Kalkül unterworfenen Lebenswelt fertigen zu können. Er sieht seine Bilder als Bruchstücke von Orten, die er alphabetisch und ohne Hierarchie anordnet. »Oft denken Leute, es sei total langweilig, was ich fotografiere. Aber ich glaube, dass sich diejenigen, die sich mit meinen Bildern intensiver auseinandersetzen, nach einer kurzen Weile durchaus amüsieren können.« Lässt man sich auf die Detailversessenheit seiner Fotos ein, wird man eine Doppelbödigkeit bemerken, bei der die scheinbar nüchterne Darstellung von subtilem Humor durchwoben ist.

 

Auf eigene Faust publizieren

 

Johanssons sieht seine Rolle als Fotograf eng an die des Buchproduzenten gekoppelt. »Bereits in dem Moment, in dem ich zu fotografieren beginne, entwickle ich eine ziemlich genaue Vision, wie mein Buch aussehen soll.« Von Anfang an schuf er parallel zu seinen fotografischen Serien eigene Publikationen. Mittlerweile sind ein gutes Dutzend erschienen, wie etwa »Sverige«, »Ulan Bator« oder »Deutschland«.

Letztgenannter Titel sollte als Fremdpublikation in einem großen Verlag erscheinen. Bei Steidl lag das Material lange herum, ohne dass etwas geschah. Schließlich forderte der Fotograf es zurück, um das Buch doch selbst zu produzieren. Wieder entstand eine umfangreiche Publikation mit spezifischen Merkmalen: kleine Abbildungen, dickes Papier, Leineneinband, kein Text. Seine Bücher können durch wiederkehrende Komponenten wie eine Reihe begriffen werden. Der hohe Erkennungswert der handwerklich perfekt gemachten Publikationen infiziert den bibliophilen Liebhaber. Die Sammlerlust befeuert Johansson noch, indem er parallel Vorzugsausgaben mit hervorragenden Silbergelatine–Prints produziert.

Letztendlich stellte es sich als Glück heraus, dass »Deutschland« als Eigenpublikation kam. Johansson nutzte die verlorene Zeit, die umfangreiche Serie um einige wichtige Arbeiten zu ergänzen. Schließlich interessierte sich Mack Books aus London für den Titel und organisierte den internationalen Vertrieb. Nach Erscheinen wurde das Buch in Blogs besprochen, auf den Webseiten relevanter Buchhandlungen empfohlen und in den obligatorischen Jahres-Bestenlisten aufgeführt. Das alles zusammen erzeugte eine starke Dynamik und machte das Buch zu einem beachtlichen Erfolg.

Dass Johansson seine Serien als Bücher in Eigenregie produziert, ist die logische Entwicklung eines beruflichen Werdgangs, an dessen Beginn der Berufswunsch »Fotograf« stand: »Mit 12 Jahren wurde ich Mitglied in dem hiesigen Fotoclub meines Heimatortes und nahm erfolgreich an den veranstalteten Wettbewerben teil. Die fotografische Qualität der Arbeiten war hoch und ich habe mir damals dort viel Inspiration geholt. Nach der Schule schickten mich meine Eltern zu Verwandten in die USA. Dort trat ich dem Village Camera Club in New York bei. Wir trafen uns alle zwei Wochen abends. Tagsüber nutzte ich die Zeit, um in New York herumzustreifen und Fotos zu machen. Es war 1962/63, die Hochphase der Magazine Life und Look. Der Klub lud hochkarätige Experten wie z. B. Roy DeCarava ein, die für jene Magazine arbeiteten. Für mich war das sehr aufregend, ich habe viel gelernt und mir ein erstes Portfolio zugelegt. Damit bin ich zu Fotografen gegangen und hab sie nach ihrer Meinung gefragt. Tatsächlich gaben mir alle den Rat, Fotograf zu werden.«

Es kam anders. Auch wenn der Zuspruch hoch war und Johansson in den USA wertvolle Erfahrungen gesammelt hatte, zweifelte er, ob er mit der Fotografie den Lebensunterhalt bestreiten könne. Stattdessen besuchte er eine Schule für Grafikdesign, um danach geradewegs den Weg zurück in die Fotografie zu finden: »Ich wurde für ein schwedisches Fotomagazin tätig. Dort habe ich 15 Jahre gearbeitet, bis der Verleger das Magazin verkaufte. Freunde und ich starteten daraufhin eine eigene Fotozeitschrift. Nach eineinhalb Jahren kamen wir auf die Idee, selbst Bücher herauszugeben. Es war um 1973/74, als wir den Verlag namens Fyra Förläggare gründeten.«

 

Selfpublisher müssen Ausdauer beweisen

 

Das geht in eine Zeit zurück, in der die Voraussetzungen für die Fotobuchproduktion von den derzeitigen technischen Möglichkeiten Lichtjahre entfernt waren. Dass sich Leute zusammen taten, um Fotobücher herauszubringen, stellte einerseits ein Wagnis dar, andererseits begünstigte die verfügbare Vertriebsstruktur des Magazins die Pläne. Das Debüt, für das Gerry Johansson verantwortlich war, lässt Fotobuchconnaisseure heute mit der Zunge schnalzen: »Das erste Buch, das ich gestaltet habe, war auch die erste Veröffentlichung von Anders Petersen. Viele denken, dass ›Café Lehmitz‹ Anders’ Erstling sei, aber bei uns kam davor noch ›Grönalund‹, eine Geschichte über einen Vergnügungspark, heraus. Heute ist das ein ultrararer Titel, der entsprechend gehandelt wird. Mit dem Magazin verfügten wir über eine Plattform, um Bücher zu bewerben. So begannen wir mit einer Art Fotobuchclub. Leute konnten unsere Titel abonnieren. Es war damals viel einfacher, das Interesse zu wecken, weil nur wenige Fotobücher erschienen. Unsere Auflagen bewegten sich bei 1 500 Exemplaren, was ziemlich hoch war. Auf unserem Höhepunkt hatten wir 1 200 bis 1 300 Subskriptionen. Die Bücher waren sehr günstig waren und bedeuteten kein großes Wagnis für den Besteller. Wir nutzten die Druckerei vor Ort. Das Grafikdesign war schlicht gehalten, um so die Kosten zu dämpfen. 20 Bücher haben wir in fünf Jahren publiziert.«

Typisch Gerry Johansson. Alle Titel weisen ein wiederkehrendes inhaltliches und formales Konzept auf. Fans schätzen dieses besondere Profil. Foto: Gerry Johansson
Typisch Gerry Johansson. Alle Titel weisen ein wiederkehrendes inhaltliches und formales Konzept auf. Fans schätzen dieses besondere Profil. Foto: Gerry Johansson

1985 verkaufte Johansson seine Verlagsanteile, um sich ausschließlich der Fotografie zu widmen. Der Erfolg einer ersten Museumsausstellung in Stockholm hatte ihn zu diesem Schritt bewogen. Um eigene Buch- und Ausstellungsprojekte zu finanzieren, übernahm er viele Aufträge im Bereich Architekturfotografie. Mehrere Titel erschienen, doch letztendlich fand er erst mit dem 1998 publizierten »Amerika« zu einer Form, die seine fotografische Arbeit in adäquater Weise präsentierte.

»Für das Buch machte ich meine ersten Bilder 1993, genau 30 Jahre nach meinem ersten Aufenthalt in den USA. Als ich hinfuhr, hatte ich keinen Schimmer, was ich genau fotografieren sollte. Ich reiste in den Süden der USA und fotografierte Plätze, die ich aus den Medien kannte, etwa Alabama, einst Schauplatz von Rassenunruhen. Nach einigen Tagen entwickelte ich ein Konzept, nämlich von einem Ort zum nächsten zu fahren und von diesen genau ein einziges Foto zu machen. Gleichzeitig wusste ich ganz genau, wie mein Buch aussehen sollte.«

Ein Buch wie »Amerika« auf den Markt zu bringen, dessen Form und systematische Darstellung den Käufer irritieren musste,  stellte natürlich ein Risiko dar. An die Frage der Finanzierung schloss sich jene nach dem Vertrieb. Aber in der gleichen Weise, wie der Fotograf lange an bestimmten Projekten gearbeitet hatte, blieb ihm auch beim Vertrieb nur die Möglichkeit, Ausdauer zu beweisen und sukzessive ein Netz aufzubauen.

»Der Vertrieb war das eigentliche Problem für einen Selfpublisher wie mich. Das hat sich mit dem Internet natürlich verändert. Mit der Recherche wird man heute auf 100 oder 200 Buchhändler weltweit stoßen, die man initiativ ansprechen kann. Aber es ist eine Menge Arbeit damit verbunden, seine Bücher in den Buchhandlungen platzieren. Für ›Amerika‹ hab ich ganze zwölf Jahre gebraucht, um es zu verkaufen. Langer Atem und viel Platz sind also von Vorteil! Aber nichts wäre schlimmer, als in einer Buchhandlung plötzlich ein Buch von mir zu entdecken, das verramscht wird!

Heute verfügt der Schwede  über gute Kenntnisse in allen Bereichen der Produktion und des Vertriebes. Er hat genauso Kontakte zu Druckereien wie zu Buchhandlungen, die seine Neuerscheinungen fest ins Sortiment nehmen. Jeder einzelne Schritt ist ihm vertraut, vom ersten Editing bis zum Eintüten der Bücher für den Kundenversand. Es mag verwundern, dass der gelernte Grafikdesigner ausgerechnet im Bereich seiner Kernkompetenz auch andere befragt. Aber es gehört zu seinem Selbstverständnis, einen engen Freund wie den Buchdesigner Henrik Nygren in seinen Entscheidungsprozess einzubinden. Unbedingt empfiehlt er denen, die ein erstes Buch machen wollen, bei der Gestaltung das Fachwissen anderer einzuholen:

»Die Wahl eines guten Designers ist unerlässlich. Der muss nicht etabliert und bekannt sein. Als ich selbst Bücher für unseren Verlag gestaltet habe, gab es immer Diskussionen mit Fotografen, die das Buch größer, kleiner, umfangreicher, mit oder ohne Text machen wollten. Als Henrik Nygren mir dann später den Dummy für mein Buch ›Amerika‹ zeigte, zweifelte ich zunächst an der Größe, aber dann sagte ich mir: Ich will nicht genauso wie die anderen sein und ich vertraute ihm als Experten. Nachdem ich mich eingehender mit dem Entwurf beschäftigte, wurde mir klar, dass es richtig war, das Buch genau so und nicht anders zu gestalten. Um es zusammenzufassen: Es ist gut, nach jemanden Ausschau zu halten, der die fotografische Arbeit in eine geeignete Form bringt. Es lässt sich so viel machen mit den Komponenten Bildgröße, Platzierung, Text usw. Dennoch gibt es Bücher, die erstaunlich konventionell aussehen. Umso mehr kommt es doch darauf an, etwas Unerwartbares zu schaffen.«

Johansson könnte perfekt als Rollenmodell für all die Selfpublisher herhalten. Mit kommerziellen Aufträgen hat er seine Bücher querfinanziert. Er hat sich wertvolles Wissen angeeignet, das in seine Buchproduktion einfließen konnte. Schließlich hat er den Rat anderer Fachleute gesucht, um das Ergebnis zu optimieren. Seine Bücher folgen einem bestimmten Konzept und sind inhaltlich und in der Form identifizierbar. Dennoch bleibt Johansson nicht einem Muster verhaftet, sondern entwickelt die Form immer weiter. Das nächste Buch wird mit einem koreanischen Designer  zusammen entstehen.

Vor allem hängt der Schwede nicht falschen Illusionen nach. Früh in seiner Karriere hat er erkannt, worin die eigentliche Rendite seiner Bücher besteht: »Ich glaube, wenn man als Selfpublisher ein inhaltlich und formal gelungenes Buch produziert und den Markt ein wenig kennt, kann man Bücher in einer Auflage zwischen 300 und 500 verkaufen. Man macht keinen Gewinn damit. Aber ein gut gemachtes Buch kann Türen öffnen für etwas anderes, vielleicht für einen Auftrag, eine Ausstellung. Ohne meine Bücher wäre meine Arbeit niemals wahrgenommen worden, zumindest nicht außerhalb Schwedens!«