Ein Gespräch mit Carl De Keyzer

»Das schlimmste Gefühl im Leben ist Hilflosigkeit«

Ein wunderbarer Spätsommertag im September. Gut gelaunt erscheint Carl De Keyzer zu unserer Verabredung. Kurz zuvor hat er seine Ausstellung »Congo (Belge)« in der FREELENS Galerie eröffnet, später wird er einen Vortrag im Haus der Photographie halten. Doch jetzt gibt er sich völlig entspannt und präsentiert sich als auskunftsfreudiger Fotograf, der zu vielen Themen dezidiert Stellung nimmt. Eine der letzten Begegnungen hatte in De Keyzers Studio in dessen Heimatstadt Gent stattgefunden. Man hätte Fotoequipment dort vermutet, tatsächlich war es aber vollgestopft mit feinsten Vintage-Synthesizern und elektronischen Klangerzeugern…

Wenn du nicht Fotograf geworden wärst, würden wir dann jetzt hier sitzen und statt über deine Ausstellung und Bücher über deine neueste CD reden?

Musik war von Anfang an meine große Leidenschaft. Ich begann Musik zu machen, als ich 13 war. Kraftwerk und Tangerine Dream, Klaus Schultze, Can, Neu! – all’ diese deutschen Gruppen. Ich war von Anfang an fasziniert von Krautrock. Mein Vater hatte einen Plattenladen. Schon als ich 7 Jahre alt war, war ich jeden Tag im Laden und sah, wie die neuesten Scheiben ankamen. Ich hörte als Jugendlicher viel Musik von den Beatles, Kinks, Rolling Stones. Einige Jahre später kam der Krautrock-Sound, das war so ungewohnt für meine Ohren! Ich war erstaunt, dass Musiker keine Instrumente mehr benutzten, sondern all diese neuartigen Klangmaschinen. Von da an wollte ich auch unbedingt einen Synthesizer und jobbte in den Sommerferien in einer Fabrik, um ein bisschen Geld zu verdienen und mir meinen Traum zu erfüllen. Es gab das richtige Equipment von Moog, Roland oder Yamaha, aber das war unerschwinglich, einzelne Maschinen kosteten, heute umgerechnet, bis zu 100.000 Euro. Ich hätte mir das nie leisten können, aber ich las ein holländisches Musikmagazin, das einen Synthie als Bausatz für damals umgerechnet 600 Euro anbot, eine Art Moog Replik. Ich hatte keine Ahnung von Elektronik. Ein befreundeter Ingenieur baute ihn mit mir in endloser Wochenendarbeit zusammen. Das dauerte, aber schließlich hatte ich meinen ersten Synthie und war unglaublich stolz. Irgendwann merkte ich allerdings, dass eine riesige Lücke zwischen den Sounds, die ich von den Bands kannte und der Musik, die ich reproduzieren konnte, klaffte. Ich spielte in einigen Bands, gab die elektronische Musik aber nach einigen Jahren auf.

Vor ungefähr sechs Jahren wurde plötzlich überall auf Ebay dieses alte Equipment angeboten und war, verglichen mit früher, für einen Klacks zu erwerben. Heute kann man für ca. 5000 Euro jenes Equipment kaufen, das damals noch horrende Summen verschlang. Ich hab seitdem leidenschaftlich gesammelt, es ist schon fast ein Studio geworden. Aber abgesehen davon kann ich keine einzige Note lesen, eigentlich habe ich keine Ahnung von Musik und spiele eher vor mich hin und probiere Dinge aus. Dennoch war und bleibt elektronische Musik meine große Passion.

Und wann begann deine zweite große Leidenschaft?

Mit 14, 15 Jahren wurde mein Interesse für Fotografie geweckt. Ich hatte einen älteren Freund in der Nachbarschaft, der hatte Zugang zu einer Dunkelkammer. Sein Onkel war eine Art Erfinder, er konstruierte z.B. Raketen, die er im Garten startete. Er kam mir ein bisschen vor wie der »verrückte Professor« und besaß eben auch diese Dunkelkammer. Ich war fasziniert von den Chemikalien, den Gerätschaften, dem Prozess, wie plötzlich ein Bild entstand. Schnell erfasste ich, wie man einen Film entwickelte. Mein eigener Onkel hatte ein altes Vergrößerungsgerät, Startpunkt für ein eigenes Labor, und irgendwann machte ich meine ersten Abzüge. Aber Fotografieren blieb damals ein reines Hobby.

Wie wurde das Hobby zum Beruf?

Als ich 18 war, wusste ich absolut nicht, was ich beruflich machen sollte. Ich war ein ziemlich guter Fußballspieler, aber leider nicht gut genug, um damit meinen Lebensunterhalt zu gestalten. Ich spielte in der dritten Liga und im Nationalteam des belgischen Militärs. Mit 16 Jahren verdiente ich um die 200 Euro pro Monat durch Fußballspielen. Aber mir gelang nicht der entscheidende Sprung in ein Spitzenteam der ersten belgischen Liga. Ich hatte Latein gehabt, wollte zur Universität und Tiermedizin studieren, nur deswegen, weil ich Tiere liebte. Meine Mutter kam aus einer Familie, die Landwirtschaft betrieb und ich hatte viel Zeit auf dem Land verbracht. Aber das blieb letztendlich auch nur eine vage Idee.

Die Fotografie war mir vertraut und daher beschloss ich, auf die Fachhochschule zu gehen. Es gab nur zwei Optionen: eine katholische Akademie für Fotografie und eine staatliche Institution. Die erste Variante wollte ich keinesfalls, ich war über 10 Jahre Schüler in einer strengen katholischen Schule gewesen.

Mein Beginn einer Fachhochschulausbildung sollte am Ende der siebziger Jahre mitten in eine wilde Periode des Punks fallen. Meine Eltern waren bereit, mich auf die staatliche Akademie zu schicken. Aber als mein Vater bei der Anmeldung plötzlich all die Leute mit gefärbtem Haar, Ketten, etc. sah, war er strikt dagegen. Schließlich konnte ich meine Mutter überzeugen, heimlich dort anzufangen, ohne dass mein Vater davon wusste. Ich fotografierte schon viel zu der Zeit in Gent, ging in Buchläden, kaufte Magazine, um mich auf diese Weise für die Akademie vorzubereiten. Das Haus, in dem ich damals wohnte, war voller Bildhauer, Maler, Kunsthistoriker, denen ich meine Bilder zeigte und die mich ermutigten, auf jeden Fall an der Akademie meine Ausbildung fortzusetzen.

Wie wichtig war die Inspiration durch andere Leute in einem akademischen Umfeld?

Ich war ein total normaler Junge, der eben Fußball und Musik im Kopf hatte. Im Studium Leute zu treffen, die mich auf neue Gedanken brachten, war ein riesiger Gewinn für mich. Aber durch die Akademie kam ich vor allem mit neuen Disziplinen wie Kunstgeschichte oder Psychologie in Berührung. Im Gegensatz zu dem strengen Regime der katholischen Schule waren die Leute freundlicher, liberaler und man hatte das Gefühl, alles sei möglich. Ich genoss die Jahre und war immer bereit, meine Fähigkeiten für Fotografie und Film weiter auszuprägen.

»Alles ist möglich!« – In deine Ausbildungszeit fiel auch schon die Gründung einer eigenen Galerie?

Mit meinem damaligen Klassenkameraden Dirk Braeckman, der heutzutage erfolgreich in der Kunstszene tätig ist, startete ich eine eigene Galerie namens XYZ. Wir wählten diesen Namen, weil sich in unmittelbarer Nachbarschaft ein Kino namens ABC befand, es war ein Pornokino. Ich verehrte Fotografen wie etwa Garry Winogrand oder Larry Clarke. In unseren Räumen wollten wir sehr subjektive dokumentarische Positionen vorstellen. Durch die Galerie kamen wir mit vielen Leuten in Kontakt. Wir luden damals einige sehr junge Magnum-Fotografen ein, aber natürlich konnten wir große Kaliber mit unseren bescheidenen Mitteln nicht ausstellen. Kommerziell wurde es ein einziges Desaster. Etwa sieben verkaufte Prints in sieben Jahren. Einige wurden uns gestohlen – so in etwa lief es ab. Wir schlossen 1989, kurz bevor Fotografie die Kunstwelt eroberte und viel breiter wahrgenommen wurde. Davor befand sie sich in kleinen Zirkeln, es gab kleine Galerien, vielleicht einige Fotofestivals, aber Fotografen hatten in der Regel keine großen Museumsausstellungen. Es gab massig Ausstellungsplatz in unserer Galerie, die vielleicht drei Mal so groß wie die von Freelens war. Wir veranstalteten dort Workshops und Vorträge, und das bildete im Grunde die einzige Möglichkeit, um einigermaßen zu überleben. Es fand ein extrem anregender Austausch zwischen Leuten statt. Noch heute kommen manchmal Leute auf mich zu, die mir erzählen, wie inspiriert sie von den damaligen Veranstaltungen waren.

Lass uns einen großen Schritt zu deiner letzten Arbeit »Congo (Belge)« machen. Wie sieht dein Resümee nach dem Buch und der Ausstellung in Belgien aus?

Das eine Buch kam im Dezember 2009 raus, der andere Band Anfang 2010. (Anmerkung PL: Carl De Keyzer hat neben »Congo (Belge)« ein weiteres Projekt »Congo belge en images« initiiert. Dazu ist er mit dem Historiker Johan Lagae tief in das Archiv des Afrika Museums in Tervuren eingetaucht, um in einem wahren Kraftakt aus 42.000 historischen Bildern eine strenge Auswahl für eine Parallelausstellung und ein Buch zu treffen.) Die Reaktion in Belgien war überwältigend. Das Fotomuseum Antwerpen hatte bis dahin noch nie so viele Besucher in einer Ausstellung gezählt, insgesamt über 60.000. Damit hatte wirklich niemand gerechnet. Nur zum Vergleich: ich hatte vor vielen Jahren im renommierten Genter SMAK Museum für moderne Kunst eine Ausstellung. Da kamen 3000 Besucher und Jan Hoet, der Direktor, bewertete das damals als großen Erfolg. Wenn heutzutage, wo Fotografie boomt, 20.000 Besucher zu Ausstellungen kommen, wird das von den hiesigen Museen als unbefriedigendes Ergebnis angesehen.

Ist es da eigentlich ein Vorteil, dass Belgien so klein ist?

Ich glaub schon. Einmal besuchte mich mein Kollege Leonard Freed für ein Wochenende. Ich hatte gerade ein neues Buch draußen und wurde deswegen am Sonntagabend in eine Fernsehshow eingeladen. Freed war total überrascht. Ein renommierter Fotograf wie er erhält in den amerikanischen Stationen, wenn es hochkommt, wenige Sekunden. Ich war über 30 Minuten zur besten Sendezeit auf dem Äther, um ausführlich über meine Arbeit zu sprechen. Das kann vielleicht nur in Belgien passieren, bzw. nur in Flandern. Der französischsprachige Teil kennt mich sicherlich nicht ganz so gut. Das flämische Belgien hat etwas Gutes und Schlechtes. Man schätzt und fördert seine eigenen Künstler, aber es gibt auch einen unangenehmen Nationalismus, wenn etwa Besucher nur Ausstellungen mit flämischen Künstlern besuchen oder deren Bücher kaufen oder nur flämische Sendungen schauen. Das gilt nicht für jeden, aber 85 % der Bevölkerung der flämischen Gemeinschaft würde ich so einschätzen. Es beängstigt mich, aber es ist natürlich gut für einige rein flämische Künstler. Ich versuche, eine Distanz zu bewahren, dennoch hat dieser Fakt sicherlich bei Verkäufen und Besucherzahlen meiner Ausstellung geholfen. Aber meine eigene Ausrichtung ist ganz klar, international zu denken und zu agieren. Viele Künstler verkaufen ihre Seele in Flandern, um gut zu verkaufen und im Fernsehen zu erscheinen.

Ist deine Arbeit eigentlich mehr »Congo« oder mehr »Belge«? Können Nicht-Belgier das Thema in seiner ganzen Tragweite verstehen?

Eigentlich glaube ich, dass es mehr eine Arbeit über Belgien ist. Meine Faszination für das Land Kongo begann schon in den 90er Jahren. Kongo als ehemalige Kolonie ist ein derart spezielles, mythisch aufgeladenes Land. Immer wieder fühlte ich mich an Joseph Conrads »Herz der Finsternis« erinnert. Das größte zentralafrikanische Land – wie klein ist mein Heimatland dagegen. Für einen Belgier wie mich stellt das doch eine total surreale Situation dar. Einst verleibte sich Belgien ein Land ein, das 80 mal größer ist als es selbst und versuchte, dort eine Art zweites Belgien bzw. ein Utopia zu schaffen. Ich wurde 1958 geboren, als Belgien noch eine Kolonialmacht war. Belgisch-Kongo übte eine riesige Faszination als kleiner Junge auf mich aus. Ich sammelte Briefmarken und Bücher über den Kongo sowie kleine Sammelbildchen, die Süßigkeiten beilagen etc. Mir war natürlich nicht bewusst, dass es sich um reine Propaganda handelte. Auch in der katholischen Schule hörte man viele Geschichten über die christlichen Großtaten der belgischen Missionare. Erst viel später wurde mir bewusst, dass es sich um platte Propaganda und Manipulation handelte. Ich glaube, viele meiner Bücher setzen sich deswegen mit dem Gedanken der Propaganda auseinander, weil ich die immer wieder in der Schule erlebt habe. Ich habe dort so viele Lügen über den Kongo und die Kirche gehört!

»Congo (Belge)«.
»Congo (Belge)«.

 

Haben deine Themen ein verbindendes Leitmotiv, so etwas wie eine Klammer?

Etwas, was mich gleichzeitig ärgert und fasziniert, ist die Tatsache, dass Menschen andere Menschen mit Handlungen und Ideen manipulieren. Ich finde, dass schlimmste Gefühl im Leben ist Hilflosigkeit. Keine Kraft zu haben, etwas zu verändern. Daher beschäftige ich mich immer wieder mit politischen Systemen, Religion und der Art und Weise, wie Menschen dominiert werden, wie eine große Mehrheit den Ideen einiger Weniger folgen müssen. Das ist vielleicht das immer wiederkehrende Grundmotiv bei mir, aber als konkretes Thema kann es oft sehr ausufernd und abstrakt werden.

Hast du eigentlich tatsächlich erwartet, belgische Relikte der Kolonialzeit in der heutigen Republik Kongo vorzufinden?

Das hat mich natürlich schon sehr überrascht, wie viel von der kolonialistischen Infrastruktur noch erhalten ist. Ich benutzte einen Reiseführer aus den 50er Jahren, wo all die Kirchen, Hotels, Fabriken, Schwimmbäder, Amüsierparks für den weißen Europäer verzeichnet waren. Ich wollte sehr gerne diese Plätze aufsuchen und die historischen Hinterlassenschaften des Kolonialismus dokumentieren. Aber es ging mir von Anfang nur um Eines dabei: die koloniale Geschichte zu erforschen. Wenn ich etwas dabei kritisieren wollte, dann die Taten und Auswirkungen des Kolonialismus, nicht aber einen Zustand der Unordnung, in dem sich das Land heutzutage befindet. Hätte ich das gewollt, wäre das ungleich leichter gewesen. Das Land weist teilweise desaströse Zustände auf, nur war das eben nicht die Idee, die ich mit »Congo (Belge)« verfolgte. Ansonsten hätte ich vielleicht nur zwei Monate benötigt, um dort zu fotografieren. Denn es ist so einfach, Kongo als apokalyptisches Land darzustellen. Alle zehn Meter in Kinshasa begegnet einem die Apokalypse. Ich setzte als fotografische Mittel immer wieder Humor und Ironie ein, um die Situationen um mich herum besser zu verstehen und oft auch ertragbarer zu machen. Es ist wirklich ein schwieriges Land, um dort zu fotografieren.

Wie einsam ist man als Fotograf auf einer solchen Reise? Und wie reist man dort eigentlich?

Im Kongo fühlte ich mich tatsächlich oft sehr allein. Aber ich war im Vorfeld bemüht, diese Reisen sehr gut zu organisieren. Anders geht das gar nicht. Das stellte eine harte Herausforderung dar. Ich konnte nicht jeden Platz, der im Reiseführer beschrieben war, aufsuchen, denn einige befanden sich mitten im Herzen der Kriegsschauplätze, andere waren mit Autos unerreichbar. Man hätte ein Flugzeug mieten müssen und das ganze wäre viel zu teuer geworden. So musste ich mich einschränken. Ich hatte die Idee zu schauen, wo überall die NGOs tätig sind. Ich kombinierte deren Standorte mit den Plätzen, wo ich fotografieren wollte und kontaktierte dann die verantwortlichen Mitarbeiter. Ihnen bot ich meine Dienste als Fotograf kostenlos an und die meisten Organisationen erklärten sich mit meinen Bedingungen sofort einverstanden: ein Platz zum Schlafen, die Benutzung von Jeeps und die Hilfe der einheimischen Guides, die für sie tätig waren.

Hast du irgendwelches Geld im Vorfeld für dein Projekt akquiriert?

Nein, überhaupt nicht. Ich hab alles selbst bezahlt. Aber das war gar nicht so ein teures Projekt, verglichen mit früheren Arbeiten. Ich musste vor allem Tickets für meine sechs Reisen zahlen. Die Zeit, die ich dort verbrachte, betrug insgesamt 10 Monate. Das Ergebnis sind eine Menge Bilder, die sich in meinem Buch wiederfinden, tatsächlich habe ich aber dreimal so viele Bilder gemacht. Tagsüber fuhr ich in den Dschungel, um dort Bilder der Kirchen oder Fabriken zu machen. Nachts kehrte ich in die Hospitäler und Lager zurück und machte beispielsweise Fotos von verletzten Patienten, denen Gliedmaße amputiert worden waren. Es war ein kräftezehrender Doppeljob.

Die meisten der NGOs waren entlang der Kriegsfronten von Uganda und Ruanda aktiv. Das war von Vorteil für mich, weil im Osten die rohstoffreichsten Gebiete sind, die auch die meisten meiner Ziele beherbergten, z.B. die Minen. Aber ich geriet immer wieder in extrem schwierige Situationen, wie man aus einigen Bildern erahnen kann. Junge Soldaten, einige im Drogenrausch, mit Kalaschnikows bewaffnet, schützten diese Gebäude. Manchmal musste ich meine Kamera verstecken, in den Reifen der Jeeps, darauf hoffend, dass mir nicht der Jeep geklaut wird. Es war nie einfach.

Wann wusstest du, dass das Projekt abgeschlossen ist?

Eigentlich habe ich immer das Gefühl, dass ich niemals genug Bilder für ein Buch habe und daher nicht fertig bin. Für ein Buch mit 80 Bildern brauche ich mindestens 100 Bilder, die meinen Anforderungen entsprechen. Ich dachte lange, ich hätte bei »Congo (Belge)« nicht genug. Mir war bei diesem Projekt vor allem wichtig, viele unterschiedliche ehemalige belgische Plätze zu fotografieren. So war völlig klar, dass ich unbedingt in die Minen von Katanga wollte. Ich konnte kein Buch über den belgischen Kolonialismus machen, ohne ein Hauptgebiet zu fotografieren, das für die Belgier von derart enormer Bedeutung war: Kupfer, Kobalt und Gold. Das habe ich schließlich auf meinem letzten Trip fotografiert. Als ich dann das Material geprüft habe, war ich eigentlich zufrieden.

Hast du mit dem fertigen Material die üblichen Verleger abgeklappert? Und wie weit bereitest du ein Buch selbst vor?

Eine Vereinbarung schließe ich immer schon vorher ab. Es gibt immer einen Verlag im Vorfeld, der meine Arbeit publizieren wird. Das ist auch bei meiner neuesten Arbeit so: »Moments before the flood«.

Ich mache immer das Editing, bei »Congo (Belge)« habe ich auch das Design größtenteils selbst konzipiert. Mein Freund Luc Derycke, der u.a. Stephan Vanfleterens Bücher gestaltet hat und als einer der besten Buchdesigner Belgiens gilt, hat mich unterstützt. Es begann als Witz, dass Derycke ein Cover erstellte, welches an die berühmte Ausgabe von Hergés »Tim und Struppi im Kongo« erinnern sollte: er legte die dieselbe Typographie über eines meiner Fotos. Ich reagierte zunächst ziemlich empört und sagte ihm, das könne er nicht machen, es sei einfach zu lächerlich. Das nächste Mal würde er mir dann ein Buch in Krokodilleder anbieten wollen. Er fand das ernsthaft eine gute Idee und kümmerte sich sofort um das Umschlagsmaterial, ein Schlangenlederimitat. So entstand schließlich die jetzige Version. Auf dem Cover verwendete Derycke den gleichen Farbton und die gleiche Schriftart wie bei dem berühmten Heft.

Im Grunde sind alle meine Bücher inspiriert von schon existierenden Büchern: »Homo Sovieticus« ist einem Propagandawerk über sozialistischen Realismus in der Malerei nachempfunden, »God Inc.« imitiert Typographie und Machart des Time Life Magazins in den 60er Jahren, »East of Eden« orientiert sich an der Bibel, wobei das ursprüngliche Cover ein »Adam und Eva«-Motiv darstellte. »Trinity« zitiert – grob zusammengefasst – Bücher über klassische Malerei des 19. Jahrhunderts.

Und auch »Congo (Belge)« ist aufgebaut wie eine Agenda der damaligen Verwaltungsangestellten, die häufig von Brüssel aus regierten, selbst aber niemals im Kongo waren. Die Bürokraten benutzten Bücher, die in Schlangenleder eingebunden waren und in denen sie etwa Einnahmen und Kosten der Kolonie notierten. Die Seiten dieser Geschäftsbücher waren unterteilt durch pastellfarbene Einlegeblätter, um die verschiedenen Abschnitte zu markieren. Das Papier, die Einteilungen, den Umschlag, all das habe ich als Idee für das Buch aufgenommen. Ich stellte mir also jemanden vor, der in Brüssel am Schreibtisch sitzt und das Land verwaltet und nach Belieben steuert. Jedes Kapitel soll eine Region darstellen, für die er Straßen und Fabriken etc. konzipiert. Das ist das Konzept dieses Buches. Jemand, der sich sein Wunschland Kapitel für Kapitel selbst kreiert. Dabei kann er über das Territorium, die Bodenschätze und die Arbeitskräfte frei verfügen. Vielleicht findet man das übertrieben, aber de facto ist es so geschehen.

Wie ist das Buch angekommen?

Reden wir über Verkäufe, ist es eines meiner bestverkauften Bücher. Enttäuscht war ich dagegen über die Resonanz der Ausstellungsanfragen. Nach Antwerpen wurde die Ausstellung, die eigentlich nur mit der Ausstellung »Congo Belge en Images« zusammen gezeigt werden soll, beim Fotofestival Noorderlicht präsentiert und in abgespeckter Version in einigen anderen Ländern.

Inwieweit unterstützt dich deine Agentur »Magnum Photos« bei der Vermarktung deiner Arbeiten?

Magnum ist nicht so gut, wenn es darum geht, Ausstellungen zu organisieren. Die Agentur war und ist natürlich weiterhin ein wichtiger Faktor in meinem Berufsleben, verliert aber zunehmend an Bedeutung. Ich zähle immer weniger auf Magnum, versuche eher, meine Dinge alleine zu regeln. Ich habe geringe Einkünfte durch die Agentur, aber nach so vielen Jahren stelle ich fest, dass ich vieles besser selbst organisieren kann. Tatsächlich hat Magnum nie meine Ausstellungen verkauft. Für mich ist die Agentur eher wichtig, um Kontakte zu haben. Vielleicht ist der wichtigste Aspekt die Gemeinschaft, der Austausch mit den Fotografen, die zur »Familie« gehören. Dadurch erhält man ständig Inspiration. Wenn jemand mit einem neuen Buch herauskommt, ermutigt einen das, selbst weiterzumachen. Vielleicht würde ich ansonsten nicht mein elftes Buch nächstes Jahr herausgeben und meine Produktivität wäre viel geringer.

Du beweist auf eindrucksvolle Weise, wie ein Fotograf immer wieder seine Grenzen verschiebt und neue Wege geht. Ich denke konkret an deine iPad-App und deinen soeben eröffneten Online-Shop.

Das ist mehr aus der Frustration heraus entstanden. Ich wurde durch ca. 15 Galerien weltweit vertrieben. Wären die Verkäufe nicht so derart mager gewesen, würde ich niemals meinen eigenen Shop im Netz betreiben. Das gleiche gilt für die iPad-App. Wenn meine Bücher verfügbar wären und es Neuauflagen gäbe, müsste ich keine App erstellen. Ich find einfach schade, dass ein Buch in einer 3000er oder 4000er Auflage erscheint und dann nach zwei Jahren für immer vergriffen ist. So bleibt von einer Arbeit nicht viel übrig, außer vielleicht Bilder auf der Website usw. Mit den iPad-Apps könnte man einen brauchbaren Backkatalog jederzeit und überall verfügbar machen. Eine App erschafft nicht das gleiche Rezeptionserlebnis wie ein Buch, aber der Preis beträgt eben auch nicht 50 €. Ich krieg derart viele Bestellanfragen zu meinen vergriffenen Büchern wie »Homo Sovieticus«, irgendwann sind dann auch die letzten bei mir noch vorhandenen Lagerexemplare vergriffen. Gerade Schulen und Universitäten schicken Anfragen und dort wird die iPad-App gerne angenommen und im Unterricht eingesetzt.

Tatsächlich habe ich versucht, mit der »Zona«-App, im Vergleich zum Buch, eine neue Arbeit auszugestalten. Es gibt bei mir oft ein enttäuschendes Gefühl bei der Fotografie. Man ist 10 Monate etwa im Kongo unterwegs und das, was letztendlich bleibt, sind die 100 Bilder des Buches, wenn es hochkommt. Mit der App kann ich die Geschichte breiter erzählen, indem ich Musik, Videos, Texte etc. hinzufüge. Doch mir sind auch die damit verbundenen Gefahren bewusst. Zuviel Schnickschnack verwässert die Geschichte. Oft ist es stärker, wenn man einfach nur die Bilder zeigt, ohne die ganzen Zugaben. Aber noch einmal: mein Hauptanliegen, warum ich Apps entwickle, ist die Verfügbarkeit der Arbeit.

Der Online-Shop ist aus dem Umstand entstanden, dass ich schon lange mit Galeristen zusammenarbeitete, aber dort kaum etwas verkauft wurde. Keine Ahnung, woran es liegt, vielleicht sind die Themen zu sperrig, vielleicht liegt es an meiner Art, zu fotografieren… Ich sehe andere Kollegen, deren Prints weggehen wie warme Semmeln. Letztes Jahr habe ich das alles überdacht und meine Zusammenarbeit mit den Galerien beendet, um es auf eigene Faust zu probieren. Ich kann die Prints nun für die Hälfte anbieten, so sind sehr demokratische Preise möglich. 100 Euro für einen A3-Print, einige Kollegen lachen mich aus.

Aber es macht Sinn von der kaufmännischen Seite. Wenn ich eine Kalkulation aufstelle, dann verkaufe ich 300 Prints für 100 € schneller als umgekehrt 100 Stück für 300€. Wenn ich alle meine Arbeiten auf diese Weise verkaufen könnte, die ich in 4 Größen und unterschiedlichen Auflagen anbiete, fahre ich viel besser damit, als eine bestimmte Größe in Kleinstauflage bei einer Galerie anzubieten, die am Ende 50% einnimmt. Im Juni bin ich mit der Seite an den Start gegangen und die erste Reaktion war ziemlich überwältigend. Es kamen viele Bestellungen. Natürlich stehen dagegen erst einmal hohe Investitionskosten, aber ich bin guter Dinge. Insgesamt gesehen, scheint mir dies für einen unabhängigen Fotografen wie mich ein gangbarer Weg, um seine Arbeiten zu verkaufen.

Peter Lindhorst und Carl De Keyzer während der Ausstellungseröffnung in der FREELENS Galerie.
Peter Lindhorst und Carl De Keyzer während der Ausstellungseröffnung in der FREELENS Galerie.

 

Kannst du abschließend etwas über dein neues Projekt erzählen?

Es hat den Titel »Moments before the flood«. Die Idee dahinter ist ganz einfach. Ich möchte die gesamten Küstenlinien Europas abfahren, bevor es »zu spät« ist. Alle meine Projekte bewegen sich zwischen den Polen Fiktion und Realität, aber in dieser Arbeit überwiegt eindeutig die Fiktion, eine Sache, die vielleicht nicht passiert oder nur in den Köpfen der Menschen. Wissenschaftliche Voraussagen sagen, dass durch die globale Erwärmung und das Abschmelzen der Pole und Gletscher der Meeresspiegel drastisch ansteigen wird. Einige Prognosen gehen von bis zu 18 Meter aus. Das ist das Worst-Case-Szenario, andere sprechen von 3 bis 8 Metern. Auch die Voraussagen über den Zeitpunkt sind widersprüchlich und werden immer wieder korrigiert. sollte der Anstieg nur wenige Meter betragen, hat das drastische Konsequenzen für uns. Und möglicherweise wird die Katastrophe auch gar nicht eintreten, weil die Natur sich selbst korrigiert. Dennoch ist es ein Thema, über das Menschen nachdenken.

Mir erscheint das ein interessanter Ansatz, Bedrohungen durch das Meer und die Ozeane, die gleichermaßen in der Vergangenheit wie jetzt in der Gegenwart existieren, in meiner Arbeit zu reflektieren. In 5 Jahren oder 50 Jahren kann irgendetwas an einem Strand passieren. Es hat etwas mit einer diffusen Angst zu tun, die vom Meer ausgeht. Diese Bedrohung gab es immer wieder in der Vergangenheit, von frühesten Eroberungen durch Seefahrervölker bis in die Gegenwart, wo afrikanische Geflüchtete mit ihren Booten an den südeuropäischen Küsten antreiben.

Wenn man darüber nachdenkt, gibt es an den Küsten massenhaft historische Verteidigungsbollwerke, Burgen und Wälle, es gibt viele Bauwerke, die aus Furcht vor Bedrohung vom Meer errichtet worden sind. Das erschien mir interessant, um mein Projekt zu beginnen.

Alle Küsten Europas zu besuchen – ist das nicht eine fotografische Herausforderung, an der man scheitern muss? Und wie ist das mit der Finanzierung dieses ausufernden Themas?

Ich scheine etwas von einem »Maniac« zu haben, wenn ich mich in Stoffe verbeiße. Ich brauche einfach Themen, die ausufern und an denen ich mindestens ein Jahr arbeiten kann. Das Finanzieren dieser Langzeitprojekte hat eine Entwicklung. Als ich mit »India«, einer meiner ersten Arbeiten, startete, verfügte ich über gar kein Geld. Ich habe in Indien auch deshalb fotografiert, weil es ein sehr billiges Land war und mein halbjähriger Aufenthalt dort kaum Kosten verursachte. Das Geld, das ich mit dem Buch gemacht habe, wanderte gleich ins nächste Projekt. Dabei war mir klar, dass die Themen meinem Budget untergeordnet sind. Bei meiner Arbeit »Homo Sovieticus« habe ich die Bildungsangebote sozialistischer Organisationen und Parteien verschiedener Länder genutzt, die günstige Fahrten in die Sowjetunion anboten. Ich habe 13 Reisen in einem Jahr unternommen. So habe ich schätzungsweise etwa 7000 Euro ausgegeben, um das ganze Projekt zu machen. Das wurde ein großer Erfolg, ich gewann den Eugene-Smith-Award und plötzlich hatte ich ein größeres Budget zur Verfügung. Mit diesem Schwung habe ich wiederum »God Inc.« produziert und bin ein Jahr in den USA rumgefahren. Am Ende eines Projekts war ich immer total pleite und musste auf die Erlöse meines neuen Buches warten.

Während alle Projekte von mir mehr oder weniger selbstfinanziert worden sind, verhält es sich mit »Moments before the flood« völlig anders. Erstmals konnte ich von einem Fond der flämischen Gemeinschaft, der Gelder für Wissenschaftler an Universitäten bereitstellt, profitieren. Ich hab mich als Künstler öfter um Projektgelder bemüht, aber das waren nur kleine Summen. Der Direktor der Akademie in Gent hat mich darauf hingewiesen, dass man sich auch als Künstler bewerben könne. Er wollte mich gerne an die Akademie anbinden, eine Förderung wie diese bedeutet auch für seine Lehranstalt Renommee. Mit meinem Projekt »Moments before the flood« konnte ich schließlich das Komitee überzeugen und erhielt den Zuschlag in Höhe von 250.000 Euro. Das bedeutet die Bezahlung eines Lehrauftrags für die nächsten drei Jahre, 100.000 Euro kann ich ausschließlich für dieses Großprojekt verwenden.

Was wird am Ende entstehen?

Ein Buch, möglicherweise eine weitere App und ein spezielles Ausstellungskonzept. Ich möchte mich, Stefan Vanfleteren hat das erfolgreich vorgemacht, außerhalb des Kreises von Museen und Galerien bewegen. Dieses Mal organisiere ich alles selbst, suche die Lokalitäten, organisiere den Ticketverkauf etc. Ich werde an der Küste bei Ostende ein Dorf aus Containern errichten, in die man hineingeht und die alle miteinander verbunden sind. Darin werden riesige Prints präsentiert. Das hat natürlich symbolischen Charakter. Eine Ausstellung in Containern, die im nächsten Moment vom Meer verschluckt werden könnten. Die Show, die nächstes Jahr in den Sommermonaten stattfinden wird, befindet sich mitten in den Vorbereitungen. Die Genehmigungen, die Container aufzustellen, sind bereits erfolgt. Die Container werden von Privatfirmen unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Aber die Investitionen für die Ausstellung betragen 100.000 Euro, die ich zusammen mit meinem Verlag Lannoo trage. Ich hoffe, dass wir am Ende mit schwarzen Zahlen herauskommen. Die Voraussagen sind gut, wir brauchen 30.000 Leute, die die Show während der Sommermonate besuchen. Die Kongo-Ausstellung hat die doppelte Menge angezogen und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir mit dem Thema und Ausstellungskonzept eine noch stärkere Medienberichterstattung erzielen werden. Globale Erwärmung ist ein Thema, das viele Leute anspricht. Zwar handeln die Bilder nicht von Seelöwen und Pinguinen, das würde sicher viel besser funktionieren. Aber ich bin trotzdem voller Zuversicht!

Das Gespräch führte Peter Lindhorst

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